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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

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Haeckel, Ernst: Die Natur als Künstlerin
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0606

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DIE NATUR ALS KÜNSTLERIN

PORTRÄTZEICHN UN G

zu erklären, daß die einfache, dem unbewaffneten
Auge unsichtbare Zelle so wundervolle Gebilde
schafft? Ohne Gehirn und Augen, ohne Hände und
Werkzeuge? Und wozu wird soviel Schönheit und
Reiz in der geheimen mikroskopischen Welt ver-
schwendet? Es kam wohl auch vor, daß ein
skeptischer, dem Mikroskop mißtrauender Besucher
die Existenz dieser erstaunlichen „Kunstwerke der
Zelle" direkt leugnete oder die Bilder für optische
Täuschungen erklärte. Ein anderes Mal behauptete
ein naiver Laie, daß solche Tiere und Pflanzen gar
nicht existieren könnten, und daß meine Abbildungen
davon „erfunden" seien. Dabei fiel mir die Ge-
schichte von dein Bauern ein, der im Zoologischen
Garten zu Berlin zum erstenmal lebende Elefanten
und Rhinozerosse, Giraffen und Känguruhs sah. In
sein heimatliches Dorf zurückgekehrt, rief er voll
Enthusiasmus aus: Nein, Kinder, das müßt ihr aber
mal sehen; da laufen lebendige Tiere herum, die es
gar nicht gibt!

Was wissen wir über die Entstehung und das
Wesen jener natürlichen Kunstformen, die sich
überall in der Natur finden und wie sie sich uns
zumal in den Radiolarien darstellen? Wir wissen
heute, daß in allem Lebendigen eine und dieselbe
Substanz die materielle Grundlage, der aktive
„Schöpfer" ist: das Plasma oder Protoplasma, eine

HEINRICH WOLFF-KÖNIGSBERG

ursprünglich gleichartige, an sich formlose, fest-
flüssige Substanz ohne ursprüngliche Struktur. Das
lebendige Plasma besitzt die Fähigkeit, allen mög-
lichen Lebensbedingungen sich anzupassen, und indi-
vidualisiert sich gewöhnlich in Form einer einfachen
kernhaltigen Zelle. Während bei den einzelligen
Protisten der ganze Körper zeitlebens auf der Stufe
der einfachen, selbständigen Zelle stehen bleibt, ist
dieser Zustand bei den vielzelligen Tieren und
Pflanzen nur im Beginn der individuellen Existenz
vorhanden. Durch wiederholte Teilung der ein-
fachen Eizelle erfolgt hier die Bildung von Ge-
weben, die in großer Mannigfaltigkeit die Organe
zusammensetzen. Aber in allen Fällen wird die
Form sowohl dieser einzelnen Organe wie die Ge-
stalt des ganzen vielzelligen Organismus durch die
plastische Tätigkeit des Plasmas bedingt. Wir be-
obachten seine Bewegungen und Formveränderun-
gen und dürfen ihm nicht nur Empfindung und Ge-
dächtnis (Mneme) zuschreiben, sondern auch ein
Seelenleben einfachster Art. Die Theorie von der
Zellseele, auf die ich zuerst vor fünfzig Jahren durch
das Studium der Radiolarien geführt wurde, ist
allein imstande, uns auch ihre plastische Tätigkeit,
ihren „Kunsttrieb", verständlich zu machen.

Unter allen Klassen der Protisten bieten in die-
ser Beziehung die Radiolarien oder „Strahlinge"

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