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Münchner kunsttechnische Blätter.
Nr. 15.
Rats zu erholen. Die Leiter und Ueberwacher
solcher Werkstätten müssten ja nicht gerade
Professoren sein und solche, die es werden
wollen, sondern sie müssten nur in technischen
Arbeiten erfahren und bewandert sein.
Ernst Friedlein.
Ein Beitrag zur Perspektive.
Zum Beitrag zur Perspektive in Nr. 6 und zur
Notiz auf Seite 44 erhalten wir folgende Zuschrift:
Es ist in den meisten der besprochenen Fälle
wohl wahr, dass wir den Augenpunkt verlegen, d. h.
dass wir ein Objekt mit dem grösstmöglichen Seh-
winkel von 60° nicht umfassen können, aber die-
selbe Erscheinung besteht auch — natürlich nicht
so ausgeprägt — wenn unser Sehwinkel kleiner als
60° ist, wie wir uns aus folgendem überzeugen können:
Nehmen wir an, unser Auge sei in A (von oben
gesehen) und wir betrachten die Gerade BC. Der
kürzeste Weg zu Geraden ist die Senkrechte DA,
E
der nächste Punkt dieser Geraden ist also D. Der
Punkt B, der Punkt C sind entfernter von unserem
Auge, denn wir sehen, dass AC = AB==AE. Hier
sind also verschiedene Punkte der Geraden ver-
schieden vom Auge entfernt.
Nehmen wir nun an, auf dieser horizontalen
Geraden stehen senkrechte Linien in B, G, ü, F,
C, E, die alle gleich lang sind. Da die Punkte B
und C viel weiter von unserem Auge entfernt sind
als aber D, so werden die Senkrechten, die wir in
B und C gesetzt haben, auch viel kleiner erscheinen
als wie die Senkrechte, die wir in D errichtet haben.
Näher an uns sind schon die Punkte G und F
(Figur 1), infolgedessen werden auch die Senk-
rechten, die wir in G und F (Figur 2) gesetzt haben,
entsprechend grösser sein. Wir nehmen natürlich
als Axiom an, dass ein Objekt um so kleiner wird,
je weiter es von uns entfernt ist. Zwischen B D und
D C können wir uns noch eine Unzahl von Punkten
mit darauf stehenden Senkrechten denken, und diese
Senkrechten werden um so kleiner, je weiter sie
sich von D nach rechts oder links entfernen. Wir
bekämen darnach ein Bild, wo die Verbindungs-
linie sämtlicher oberen Punkte dieser Senkrechten
B
G
0
F
C
Z Y (Figur 2), die ja in der Natur gerade und hori-
zontal ist, ein gekrümmtes Aussehen bekäme Z' Y'
(Figur 3). (Der Einfachheit halber habe ich ange-
nommen, dass unser Augenpunkt in der Horizontal-
ebene bei D liegt.) Ich möchte noch hinzufügen.
Figur 3.
dass es uns zwar schwer fallen würde, z. B. die
Senkrechte bei C (Figur 1) für kleiner zu erklären,
als wie die Senkrechte in D, aber wir würden sicher
die Senkrechte, die in E steht, für kleiner halten,
als wie diejenige in D.
Stellen wir nun Figur 1 so auf, dass BC ver-
tikal steht, ebenso Figur 2, so dass unser Augen-
punkt in D ist, so werden wir zu demselben Re-
sultate für die vertikalen Linien kommen.
Ich habe diese Theorie auch in der Kunst
bestätigt gesehen, so z. B. in Whistlers „The piano
picture" hinsichtlich der horizontalen Linien der
Wand. Das Bild macht auf mich den Eindruck,
als ob Whistler dasselbe in einem kleinen Salon
stehend gemalt hätte. Vielleicht wäre man auch
geneigt, dieses Phänomen als Abnormalität des
künstlerischen Auges zu erklären, wie das einigen
Künstlern auch nach „Münch, kunsttech. Blätter" I.
Seite 66, passiert ist. Aber ich finde, dass Cana-
lettos linierte Städteansichten kein künstlerisches
Sehen verraten, gerade so wenig, wie die land-
läuhgen Architekturzeichnungen, die von Architekten
nach allen „Regeln" der Perspektive verfertigt sind.
Man kann ja bloss froh sein, kein normales Auge
zu besitzen, denn so ein normales Auge sieht ja
nicht, so ein Auge weiss ja, denn die Ueberliefe-
rung sagt es ihm, dass die Tanne gerade und senk-
recht steht und dass die Wiese grün und der
Himmel blau ist. Und damit gibt es sich zufrieden.
Münchner kunsttechnische Blätter.
Nr. 15.
Rats zu erholen. Die Leiter und Ueberwacher
solcher Werkstätten müssten ja nicht gerade
Professoren sein und solche, die es werden
wollen, sondern sie müssten nur in technischen
Arbeiten erfahren und bewandert sein.
Ernst Friedlein.
Ein Beitrag zur Perspektive.
Zum Beitrag zur Perspektive in Nr. 6 und zur
Notiz auf Seite 44 erhalten wir folgende Zuschrift:
Es ist in den meisten der besprochenen Fälle
wohl wahr, dass wir den Augenpunkt verlegen, d. h.
dass wir ein Objekt mit dem grösstmöglichen Seh-
winkel von 60° nicht umfassen können, aber die-
selbe Erscheinung besteht auch — natürlich nicht
so ausgeprägt — wenn unser Sehwinkel kleiner als
60° ist, wie wir uns aus folgendem überzeugen können:
Nehmen wir an, unser Auge sei in A (von oben
gesehen) und wir betrachten die Gerade BC. Der
kürzeste Weg zu Geraden ist die Senkrechte DA,
E
der nächste Punkt dieser Geraden ist also D. Der
Punkt B, der Punkt C sind entfernter von unserem
Auge, denn wir sehen, dass AC = AB==AE. Hier
sind also verschiedene Punkte der Geraden ver-
schieden vom Auge entfernt.
Nehmen wir nun an, auf dieser horizontalen
Geraden stehen senkrechte Linien in B, G, ü, F,
C, E, die alle gleich lang sind. Da die Punkte B
und C viel weiter von unserem Auge entfernt sind
als aber D, so werden die Senkrechten, die wir in
B und C gesetzt haben, auch viel kleiner erscheinen
als wie die Senkrechte, die wir in D errichtet haben.
Näher an uns sind schon die Punkte G und F
(Figur 1), infolgedessen werden auch die Senk-
rechten, die wir in G und F (Figur 2) gesetzt haben,
entsprechend grösser sein. Wir nehmen natürlich
als Axiom an, dass ein Objekt um so kleiner wird,
je weiter es von uns entfernt ist. Zwischen B D und
D C können wir uns noch eine Unzahl von Punkten
mit darauf stehenden Senkrechten denken, und diese
Senkrechten werden um so kleiner, je weiter sie
sich von D nach rechts oder links entfernen. Wir
bekämen darnach ein Bild, wo die Verbindungs-
linie sämtlicher oberen Punkte dieser Senkrechten
B
G
0
F
C
Z Y (Figur 2), die ja in der Natur gerade und hori-
zontal ist, ein gekrümmtes Aussehen bekäme Z' Y'
(Figur 3). (Der Einfachheit halber habe ich ange-
nommen, dass unser Augenpunkt in der Horizontal-
ebene bei D liegt.) Ich möchte noch hinzufügen.
Figur 3.
dass es uns zwar schwer fallen würde, z. B. die
Senkrechte bei C (Figur 1) für kleiner zu erklären,
als wie die Senkrechte in D, aber wir würden sicher
die Senkrechte, die in E steht, für kleiner halten,
als wie diejenige in D.
Stellen wir nun Figur 1 so auf, dass BC ver-
tikal steht, ebenso Figur 2, so dass unser Augen-
punkt in D ist, so werden wir zu demselben Re-
sultate für die vertikalen Linien kommen.
Ich habe diese Theorie auch in der Kunst
bestätigt gesehen, so z. B. in Whistlers „The piano
picture" hinsichtlich der horizontalen Linien der
Wand. Das Bild macht auf mich den Eindruck,
als ob Whistler dasselbe in einem kleinen Salon
stehend gemalt hätte. Vielleicht wäre man auch
geneigt, dieses Phänomen als Abnormalität des
künstlerischen Auges zu erklären, wie das einigen
Künstlern auch nach „Münch, kunsttech. Blätter" I.
Seite 66, passiert ist. Aber ich finde, dass Cana-
lettos linierte Städteansichten kein künstlerisches
Sehen verraten, gerade so wenig, wie die land-
läuhgen Architekturzeichnungen, die von Architekten
nach allen „Regeln" der Perspektive verfertigt sind.
Man kann ja bloss froh sein, kein normales Auge
zu besitzen, denn so ein normales Auge sieht ja
nicht, so ein Auge weiss ja, denn die Ueberliefe-
rung sagt es ihm, dass die Tanne gerade und senk-
recht steht und dass die Wiese grün und der
Himmel blau ist. Und damit gibt es sich zufrieden.