München, 24. August 1906.
Beilage zur „Werkstatt der Kunst" (E. A. Seemann, Leipzig).
Erscheint 14tägig unter Leitung von Maier Ernst Berger.
H. Jahrg. Nr. 23.
Inhalt: Warum Temperafarbe? Von Albert Lamm in Müggendorf. — Einiges über Oele und
G. Bakenhus in Kreyenbrück (Fortsetzung). — Der Farbensinn der alten Griechen.
Oeffarben. Von Maler
Warum Temperafarbe?
Von Alb. Lamm in Müggendorf.
Als ich kürzlich an dieser Stelle über Bergers
Buch „Böckhns Technik" berichtete, glaubte ich
ais besonders wichtig an diesem Buche hervorheben
zu müssen, dass es zeigt, warum Böckiin die ein-
fachere (und auch immer noch iange nicht an sich
minderwertige) Oeitechnik veriiess und sich mit
vielen Mühen eine wesentlich schwierigere Technik
suchte. Und in Wahrheit dürfte die Frage nach
dem Grunde eines jeden solchen Wechsels der
Technik von der grössten Wichtigkeit sein. Wer
die Oelfarben verlässt und sich einer Tempera zu-
wendet, verlässt das feste Land und begibt sich
mit seiner Malerei zunächst auf die hohe See, und
niemand kann ihm sagen, wann er wieder festen
Boden findet. Wer hier keine eigenen Erfahrungen
gemacht hat, findet diesen Vergleich wahrscheinlich
etwas schwülstig; der Rest aber wird mit einiger
Bereitwilligkeit zustimmen. Wer die Tücken der
Tempera kennt (und gerade gute, reinste Tempera
ohne chemische Verquacksalberung, gerade Tempera
mit ihren spezifischen Wirkungen ist immer tückisch),
kann nicht genug vor ihr warnen; ebensowenig aber
wird er sie wieder aufgeben, wie das gleich beim
Meister der Tempera, bei Böckiin, zu sehen ist.
Wer zum ersten Male mit Tempera malt, dem
fehlen meistens die Adjektiva, um seine frischen
Eindrücke unmittelbar wiederzugeben. Momentan
kann man glauben, sandigen Chausseeschmutz mit
dem Pinsel verarbeiten zu müssen, nur dass solcher
nicht so schnell trocknet; dann kommt das Ver-
ändern der Farbe beim Trocknen, das abermalige
Verändern beim Firnissen, das „Einfallen" (dunkler
werden) bei wiederholtem Uebermalen, die völlige
Veränderung des Charakters bestimmter Pigmente,
an welche man sich gewöhnt hat, u. s. w. Ob es
gottbegnadete Genies gibt, welche mit dem allen
in einer bis zwei Wochen fertig werden, weiss ich
nicht; grösser ist jedenfalls die Zahl derer, welche
Jahr und Tag mit Experimenten verlieren, bis sie
das neue Material mühsam beherrschen — und am
grössten gewiss die Zahl derer, welche mit dem
Ausrufe „Einmal und nie wieder!" sofort zur Oel-
farbe zurückkehren.
Dass das kleine Fähnlein der Beharrlichen
allen den ernsten Nachteilen gegenüber auch deut-
liche und wesentliche Vorteile findet, ist wohl ohne
weiteres sicher; denn vollständig ohne Aussicht auf
einen Nutzen quält sich schliesslich auch ein Maler
nicht. Nur scheint mir der eigentlichste Vorzug
der Temperafarbe, wenn er auch schon öfters (von
Böckiin, Ad. Frey, Berger) ausgesprochen wurde,
doch nicht mit voller Betonung hervorgehoben,
nicht so deutlich an erster Stelle genannt zu wer-
den, wie es eigentlich geschehen müsste.
Die Haltbarkeit, welche man der Tempera vor
allem zuschreibt, kann als Hauptsache nicht an-
gesehen werden; es gibt zweifellos Oelbilder von
Spitzweg, Waldmüller, Thoma, Feuerbach und an-
deren, über deren Haltbarkeit ein Zweifel nicht
möglich ist, während einige Temperabilder neueren
Datums schon jetzt als kaum rettbar erscheinen
müssen — es kommt bei jeder Technik immer
noch auf die vorsichtigste Beachtung vieler Regeln
an. Ebenso ist wohl die „Leuchtkraft" der Tem-
pera etwas, worauf man sich nicht zu viel berufen
sollte. Es werden neuerdings Oelbilder von einer
solchen brüllenden Leuchtkraft geliefert, dass, wenn
Tempera diese noch sollte steigern können, vor
dieser nur zu warnen wäre. Böcklins farbigste Bil-
der würden in mancher modernen Ausstellung wie
stille alte Meister wirken. Und diese Steigerung
der Farbenkraft hat ganz gewiss einen zweifelhaften