Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Münchner kunsttechnische Blätter — 2.1905-1906

DOI issue:
Nr.17
DOI article:
Liebreich, Richard: Einfluss von Sehstörungen auf die Malerei [2]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.36596#0069

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
KUHSTIECRM1KM
t^L^BhMIER

München, 14. Mai 1906.

Beilage zur „Werkstatt der Kunst" (E. A. Seemann, Leipzig).
Erscheint 14tägig unter Leitung von Maier Ernst Berger.

!!. Jahrg. Nr. 17.

Inhalt: Einhuss von Sehstörungen auf die Malerei. VonProf.Dr.R. Liebreich in Paris (i. Fortsetzung). — Martin Knollers
Anleitung zur Freskomalerei (Fortsetzung). — Ein Beitrag zur Perspektive. — Anfragen und Beantwortungen.

Einfluss von Sehstörungen auf die Malerei.
Von Prof. Dr. R. Liebreich in Paris.

Es könnte misslich erscheinen, eine Periode
Turners als krankhaft zu bezeichnen, deren Beginn
von vielen Kunstkennern und Kritikern gerade als
sein Höhepunkt betrachtet wird. Mir scheint hierin
kein unbedingter Widerspruch zu liegen. In der
Kunst ist das physiologisch absolut Normale durch-
aus nicht Grundbedingung. Man kann hier nicht
derjenigen Geschmackrichtung ihre Berechtigung ab-
sprechen, welcher das absolut Gesunde hausbacken,
trivial und uninteressant erscheint; und welche da-
gegen das an der Grenze des Pathologischen stehende
oder über diese Grenze wohl gar Hinausgehende
anziehend, interessant, schön findet. Belege hiefür
lassen sich leicht finden. Sind es nicht gerade die
besten Musiker und Musikkenner, denen die spä-
testen Werke Beethovens am interessantesten sind,
obgleich hier der Einfluss seiner Taubheit nicht
zu verkennen? Müssen wir nicht in der Poesie
manchen Kunstwerken den ersten Rang zuweisen,
in denen die Phantasie des Dichters weit über die
Grenzen normaler Geistesfunktionen hinausgeschweift
ist? So finde ich es denn ganz natürlich, dass der
eigentümlich poetische Duft, welcher in Turners
Bildern (namentlich in den Aquarellen) von 1831
und den nachfolgenden Jahren durch die Licht-
zerstreuung hervorgebracht wird, gerade eine be-
sondere Anziehungskraft auf viele Verehrer des
Künstlers ausübt. Und überdies wird man, wenn
man über die durch die Sehstörung direkt bedingten
Fehler hinwegzusehen versteht, gerade in diesen
Bildern Vorzüge entdecken, welche Zeugnis davon
ablegen, dass selbst in diesem schon vorgerückten
Alter der geniale Künstler sich nach vielen Seiten
hin noch bedeutend vervollkommnete, obgleich der
allgemeinen Anerkennung seiner Werke sich durch
die Störung seines Sehens schon ein Hindernis

entgegenstellte. Damit will ich jedoch nicht den-
jenigen das Wort reden, die sich für eine noch
viel spätere Periode Turners begeistern und sogar
die ein Bild bis zur Unkenntlichkeit entstellenden
optischen Fehler schön finden, diese Turners Stil
nennen, zur Schule erheben möchten und nach-
ahmen. Sie urteilen wie jener Portier einer Kunst-
handlung, der einen Venus-Torso abliefert, und
als der Diener sich wundert, wie seine Herrschaft
ein solches Ding ohne Kopf, Arme und Beine kaufen
konnten, ihm entgegnete: „Das verstehst du nicht,
das ist ja eben die Schönheit."
Wenden wir uns nun von diesem vereinzelt
dastehenden Falle eines grossen Künstlers zu einer
ganzen Kategorie von Fällen, in denen die Lei-
stungen der Maler durch Anomalien in ihrem Sehen
beeinflusst werden; ich meine Fälle von Unregel-
mässigkeiten in der Refraktion des Auges. Der
optische Apparat des Auges entwirft bekanntlich,
wie derjenige des Photographen, verkleinerte um-
gekehrte Bilder. Damit diese Bilder scharf ge-
sehen werden sollen, müssen sie gerade auf der
Netzhaut entworfen werden. Die Fähigkeit des
Auges, sich für verschiedene Distanzen nachein-
ander so einzurichten, dass es von den Objekten
in diesen verschiedenen Entfernungen nacheinander
scharfe Bilder auf der Netzhaut entwirft, nennt
man Akkommodation. Diese Fähigkeit beruht auf
der veränderbaren Form der Linse. Die Akkommo-
dation ist am meisten angespannt, wenn man sich
für den nächsten Punkt einrichtet, am meisten ent-
spannt, wenn man sich für den entferntesten Punkt
akkommodiert. Der optische Zustand, in welchem
sich ein Auge befindet, wenn es für seinen Fern-
punkt eingerichtet, seine Akkommodation also ausser
Tätigkeit gesetzt ist, nennt man seine Refraktion.
 
Annotationen