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Münchner kunsttechnische Blätter — 2.1905-1906

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Nr. 16
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Liebreich, Richard: Einfluss von Sehstörungen auf die Malerei [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.36596#0065

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München, 30. Apri) 1906.

Beitage zur „Werkstatt der Kunst" (E. A. Seemann, Leipzig).
Erscheint 14tägig unter Leitung von Maier Ernst Berger.

11. Jahrg. Nr. 16.

Inhalt: Einfluss von Sehstörungen auf die Malerei. Von Prof. Dr. R. Liebreich in Paris. — Martin Knoilers Anleitung zur
Freskomalerei. Von E. B. — Anfragen und Beantwortungen.

Einfluss von Sehstörungen auf die Malerei.*)
Von Prof. Dr. R. Liebreich in Paris.

Als ich vor etwa 18 Monaten (1870) nach Eng-
land kam, nicht ahnend, dass aus einer kurzen Ferien-
reise eine definitive Uebersiedeiung werden sollte,
wandte ich einen meiner ersten Besuche der National
Gallery zu. Ich war gespannt, die Werke Turners
zu sehen, da ich auf dem Kontinent hierzu keine
Gelegenheit gehabt. Wie gross war mein Erstaunen,
als ich nach Bewunderung der im ersten Raum
befindlichen Bilder aus seiner früheren Periode, in
den zweiten Raum trat, der seine späteren Arbeiten
enthält. Ist dies wirklich derselbe Maler? Sind diese
Bilder vollkommen erhalten? fragte ich mich zuerst.
Doch etwas genauer zusehend, formulierte ich als
Gegenstand einer mich interessierenden Diagnose,
die Frage: Waren es cerebrale oder oculäre Ver-
änderungen in der senilen Periode Turners, die
den Maler des „Crossing the brook" später Bilder
wie „Shade and Darkness" in die Welt setzen
Hessen? Nachforschungen über Turners Leben
konnten mich nicht zur Beantwortung dieser Frage
führen, sie ergaben nur, dass etwa in den letzten
fünf Jahren seines Lebens die intellektuelle wie die
Sehkraft gelitten, motivieren aber in keiner Weise
die Veränderungen, welche sich in seinen Werken
im Laufe von etwa fünfzehn Jahren vorher mani-
festieren. Die Frage konnte daher nur durch direk-
tes Studium der Werke entschieden werden, und
zwar vom rein naturwissenschaftlichen Standpunkt,
mit Beiseitesetzung des esthätischenoder artistischen.
Ich wählte dazu Bilder etwa aus der Mitte der
*) Dieser am 8. März 1S72 in der Royal Institution Londons
in engiischer Sprache gehaitene Vortrag ist bisher nicht
deutsch erschienen und daher wohl wenigen unserer Leser
bekannt. Wir geben ihn in seiner ursprünglichen Form, er-
warten aber weitere Zusätze vom Verfasser.
Vergl.: „Ueber den Einfluss von Anomalien und Erkran-
kungen des Sehorgans auf die Maltechnik." Von Dr. Emil
Berger, Paris (Münchn. kunsttechn. Bl. I. Nr. 13 fl.).

krankhaften Periode und analysierte dieselben in
allen Details, in Beziehung auf Farbe, Zeichnung,
Verteilung von Licht und Schatten etc. Es war
namentlich wichtig, zu ermitteln, ob das anormale
des ganzen Bildes sich in seinen Einzelheiten von
einem konstanten Fehler herleiten Hesse. Als einen
solchen fand ich eine vertikale Streifung, hervor-
gebracht durch die Umwandlung jedes hellen Punk-
tes in eine vertikale Linie; die Verlängerung ist
im allgemeinen um so beträchtlicher, je heller der
Punkt, d. h. je intensiver das Licht, welches von
dem leuchtenden Punkte in der Natur ausgeht, nicht
je heller der Punkt im Bilde ist. Es ist dies durch-
aus nicht gleichbedeutend. So geht z. B. von der
Sonne, die in der Mitte des einen Bildes steht,
ein senkrechter gelber Streifen aus, der das Bild
in zwei vollkommen abgesonderte, durch keine hori-
zontale Linie miteinander verbundene Hälften trennt.
In früheren Bildern Turners ist die Scheibe der
Sonne scharf begrenzt; das Licht gleichmässig nach
allen Seiten von ihr ausströmend, und selbst wo
durch Reflex vom Wasser ein vertikaler Streif ge-
bildet wird, ist die Linie des Horizonts, die Be-
grenzung des Landes im Vordergrund und die
Konturen der Wellen in horizontaler Richtung
scharf gezeichnet und deutlich durch den Licht-
streifen bindurchschneidend. In den hier in Rede
stehenden Bildern dagegen ist jede Zeichnung irgend
eines Details im Bereich des senkrechten Licht-
streifens vollkommen durch denselben ausgelöscht.
Aber auch weniger helle Flächen, wie beleuchtete
Häuser oder Figuren, bilden schon sehr verlängerte
vertikale Lichtstreifen. Durch diese fliessen also
z. B. Häuser, die am Wasser stehen, oder Men-
schen in einem Boote, so mit dem Spiegelbilde
im Wasser, zu vertikalen Streifenbündeln zusammen,
dass die horizontale Trennungslinie zwischen Haus
 
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