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Münchner kunsttechnische Blätter.
Nr. 18
letztere als absichtlich durch unbestimmte Dar-
stellung der Formen vernachlässigt betrachtet. Eine
genaue Analyse der Bilder ergibt indessen, dass
diese Unbestimmtheit der Formen durchaus nicht
beabsichtigt, sondern nur die Folge von Astigma-
tismus ist. In den letzten Jahren haben sich die
Porträts dieses Malers ausserordentlich verschlech-
tert, und zwar dadurch, dass die frühere Unbe-
stimmtheit in positiv falsche Proportionen überge-
gangen ist. Hals und Oval des Gesichtes erscheinen
in allen Porträts beträchtlich verlängert und auch
die Details in gleichem Sinne verzerrt. Woran liegt
dies nun ? Hat sich der Grad seines Astigmatismus
gesteigert? Nein; aber der Effekt des Astigmatismus
hat sich verdoppelt und zwar auf folgende Weise:
Ein Auge, welches sich für vertikale Linien als
normal, für horizontale als kurzsichtig verhält, sieht
die Gegenstände in vertikaler Richtung verlängert.
Wenn nun ein solches Auge in die Jahre kommt,
in welchen das Normalsichtige weitsichtig wird, das
Kurzsichtige aber noch nicht, so wird es in der
Nähe die vertikalen Linien undeutlich, die hori-
zontalen dagegen deutlich und die Gegenstände in
horizontaler Richtung verbreitert sehen. Der Porträt-
maler, bei dem ein leichter Grad von Astigmatismus
sich vorher nur durch Unbestimmtheit in den hori-
zontalen Linien und noch nicht durch die sehr
unbedeutende Verlängerung der Objekte geltend
machte, wird nun sein Bild in horizontaler Rich-
tung verbreitert sehen und daher schmaler malen,
d. h. den Fehler verdoppeln. Ich werde dies durch
Experimente besser verdeutlichen können.
Das sphärische Objektiv des Apparates ent-
wirft auf dem weissen Schirm das Bild der ver-
tikalen und horizontalen Linien (Fig. 4) mit gleicher
Fig. 4-
Schärfe. Astigmatischen Augen werden sie dennoch
verschieden erscheinen und zwar unter Umständen
in einer Weise, die ich hier den normalen Augen
dadurch verständlich machen werde, dass ich ein
zylindrisches Glas zu dem Objektiv hinzufüge; da-
durch wird Fig. 4 in Fig. 5 umgewandelt. Zylindrisch
nennt man diejenigen Linsen oder Brillengläser,
welche nicht wie die sphärischen durch Drehung
auf einer Kugelscheibe geschliffen sind, sondern
durch geradliniges Hin- und Herbewegen auf einer
zylindrischen (konkaven oder konvexen) Fläche.
F'S- s.
Solche Gläser haben nur in einer bestimmten Rich-
tung einen optischen Effekt, wie Sie dies sehen
können, wenn ich den Zylinder vor dem Objektiv
drehe. Nehme ich statt dieser schwarzen Figur mit
weissen Linien eine aus farbigen Linien zusammen-
gesetzte, so sehen Sie den Effekt des Astigmatismus
auf die Mischung der Farben verschieden ge-
färbter nebeneinander gelegener Linien, deren un-
regelmässige Bilder übereinander fallen.
Fig. 6.
Ich zeige Ihnen zunächst ein Viereck (Fig. 6)
und verwandle es in ein Oblong (Fig. 7) dadurch,
dass ich ein zylindrisches Konkavglas mit horizon-
taler Achse vor das Objektiv halte, und es findet
dann die Verlängerung in vertikaler Richtung statt,
wenn ich das Glas vor den Fokus des Objektivs
halte, und dagegen in horizontaler Richtung, wenn
ich das zylindrische Konkavglas hinter den Fokus
des Objektivs halte. Darum erklärt sich auch, dass
unter Umständen dasselbe astigmatische Auge einen
Münchner kunsttechnische Blätter.
Nr. 18
letztere als absichtlich durch unbestimmte Dar-
stellung der Formen vernachlässigt betrachtet. Eine
genaue Analyse der Bilder ergibt indessen, dass
diese Unbestimmtheit der Formen durchaus nicht
beabsichtigt, sondern nur die Folge von Astigma-
tismus ist. In den letzten Jahren haben sich die
Porträts dieses Malers ausserordentlich verschlech-
tert, und zwar dadurch, dass die frühere Unbe-
stimmtheit in positiv falsche Proportionen überge-
gangen ist. Hals und Oval des Gesichtes erscheinen
in allen Porträts beträchtlich verlängert und auch
die Details in gleichem Sinne verzerrt. Woran liegt
dies nun ? Hat sich der Grad seines Astigmatismus
gesteigert? Nein; aber der Effekt des Astigmatismus
hat sich verdoppelt und zwar auf folgende Weise:
Ein Auge, welches sich für vertikale Linien als
normal, für horizontale als kurzsichtig verhält, sieht
die Gegenstände in vertikaler Richtung verlängert.
Wenn nun ein solches Auge in die Jahre kommt,
in welchen das Normalsichtige weitsichtig wird, das
Kurzsichtige aber noch nicht, so wird es in der
Nähe die vertikalen Linien undeutlich, die hori-
zontalen dagegen deutlich und die Gegenstände in
horizontaler Richtung verbreitert sehen. Der Porträt-
maler, bei dem ein leichter Grad von Astigmatismus
sich vorher nur durch Unbestimmtheit in den hori-
zontalen Linien und noch nicht durch die sehr
unbedeutende Verlängerung der Objekte geltend
machte, wird nun sein Bild in horizontaler Rich-
tung verbreitert sehen und daher schmaler malen,
d. h. den Fehler verdoppeln. Ich werde dies durch
Experimente besser verdeutlichen können.
Das sphärische Objektiv des Apparates ent-
wirft auf dem weissen Schirm das Bild der ver-
tikalen und horizontalen Linien (Fig. 4) mit gleicher
Fig. 4-
Schärfe. Astigmatischen Augen werden sie dennoch
verschieden erscheinen und zwar unter Umständen
in einer Weise, die ich hier den normalen Augen
dadurch verständlich machen werde, dass ich ein
zylindrisches Glas zu dem Objektiv hinzufüge; da-
durch wird Fig. 4 in Fig. 5 umgewandelt. Zylindrisch
nennt man diejenigen Linsen oder Brillengläser,
welche nicht wie die sphärischen durch Drehung
auf einer Kugelscheibe geschliffen sind, sondern
durch geradliniges Hin- und Herbewegen auf einer
zylindrischen (konkaven oder konvexen) Fläche.
F'S- s.
Solche Gläser haben nur in einer bestimmten Rich-
tung einen optischen Effekt, wie Sie dies sehen
können, wenn ich den Zylinder vor dem Objektiv
drehe. Nehme ich statt dieser schwarzen Figur mit
weissen Linien eine aus farbigen Linien zusammen-
gesetzte, so sehen Sie den Effekt des Astigmatismus
auf die Mischung der Farben verschieden ge-
färbter nebeneinander gelegener Linien, deren un-
regelmässige Bilder übereinander fallen.
Fig. 6.
Ich zeige Ihnen zunächst ein Viereck (Fig. 6)
und verwandle es in ein Oblong (Fig. 7) dadurch,
dass ich ein zylindrisches Konkavglas mit horizon-
taler Achse vor das Objektiv halte, und es findet
dann die Verlängerung in vertikaler Richtung statt,
wenn ich das Glas vor den Fokus des Objektivs
halte, und dagegen in horizontaler Richtung, wenn
ich das zylindrische Konkavglas hinter den Fokus
des Objektivs halte. Darum erklärt sich auch, dass
unter Umständen dasselbe astigmatische Auge einen