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Picart, Bernard
Neueröffneter Musen-Tempel: welcher das allermerkwürdigste, aus den Fabeln der Alten in 60 auserlesenen und schönen Kupfern von Bernard Picart und andern kunstreichen Männern vorstellet ; mit deutlichen Erklärungen und Anmerkungen — Amsterdam u. Leipzig, 1754

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https://doi.org/10.11588/diglit.8922#0217

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ORPHEUS UND EUR YD ICE. i47
„ wird dadurch nur geborget: denn alles was lebet, muss srüh oder fpät diesem
„ Gesetz gehorchen, das ilt, fterben; und also könnet ihr uns g^ickseclig machen
„ ohne etwas von eurem Rechte zu verlieren , welchem alle Sterblichen unter-
„ worfen seyn." Proserpina und Pluto liefen lieh durch diesen Gesang erweichen,
ruften die Eurydice herbey und gaben sie ihrem Qemahl wieder j iedoch mit der
Bedingung, er solte sein Gesichte nicht herum wenden , fie anzusehen, bifs er
ganz aus der Holle heraus wäre, sonften solte sie ihm aus ewig wieder ge-
nommen werden.
Orpheus gieng also wieder nach der Erde zu, und hatte bereits alle Gesahr
überstanden; und Eurydice, die hinter ihm her gieng, folte nun bald das Licht
diefer Welt wieder fehen, als eine hitzige Liebes-Ubereilung ihren gar zu zärtlich
liebenden Ehemann aufer fich selbft brachte. Ach! aber es wäre ihm folche wohl
zu verzeihen gewefen, wenn nur die Hollen-Gotter wüften, was verzeihen wäre.
Orpheus ftund ftille, als er fall am Eingang ins Reich der Toden war. Da lies er
fich feine Gemüths-Bewegungen überwinden, fezte den gegebenen Befehl bey Sei-
*te und drehete feine Augen nach der Eurydice um. Diele unbefonnene Bewe^un^
machte, dafs alle feine Mühe verlohren war, und entkräftete das Verfprechen, fo
ihm Pluto gethan hatte. Die Holle erfchallete von vielmahls wiederhohlten Freu-
den-Gefchrey vor grofen Vergnügen, dafs fie ihre Beute behalten folte. Eurydice
aber fahe ihren Mann betrübt an und lies fich alfo vernehmen: „ Wertheiter Or-
„ pheus, ich verliere dich und du mich. Ach! dass du doch fo gar viel Liebe
„ vor mich hatteft. Das Gefchicke reiftet mich wieder zurück , und der Tod
„ bringet mich wieder in einen ewigen Schlaf! Lebe wohl! Liebfter Schatz,
„ denn eine fchreckensvolle Nacht umgiebt mich. Ich reiche dir die Hand zum
„ allerlezten Mahle und bin nunmehro deine gewefenBey diefen lezreren Wor-
ten verfchwand fie, wie ein dünner Rauch in der Luft verssieget. Orpheus krieg-
te fie alfo nicht weiter zu fehen. Er bemühete fich, was er nur konte, mit ihr
zu reden und sie bey fich zu behalten, allein er umfaftete einen blofen Schatten;
und Charon wolte die Eurydice nicht mehr über das hollifche GewälTer her übet
laffen.
Orpheus that ganzer sieben Monathe nichts anders, als dass er aus einen hohen
Felfen am Ufer des Fluftes Strymon 1 wehklagte, dafs die Wiederhohlung seines
Unglückes in den Klüften wiederfchallere. Die Tyger wurden dadurch mitleidig
gemacht und die Eichen kamen aus den Wäldern, ihn zu hören. Er lies sich auch
in kein neues Liebes Verftändnifs ein und verspürte gar keine Luft , wieder zu
heyrathen. Er fuchte die Einsamkeit und durchzog die kalten Länder gegen Mit-
ternacht: allenthalben aber beklagte er seine Gemahlin Eurydice und befeuszete,
dass er die Gütigkeit des Pluto fo liederlich verscherzet hatte. Alleine wie theuer
kam es dem guten Orpheus nicht leider zu stehen, dafs er nicht hatte wieder hey-
rathen wollen ! Denn die Thracischen Weiber, welche er durch feine Verachtung
beleidiget, als felbige eines Tages ein Bacchus-Feft hielten , giengen voller Rafe-
rey , welche diefer Gott verursachet, hin, und zerriften den armen Orpheus und
warsen seine Glieder aus dem Felde herum. Sein von dem Corper abgeriftenes
Haupt ward in den Fluss Hebrus geworsen und da es aus dem Walter dahin
fchwomm , rufte es immer noch Eurydice. Auch das allerlezte Wort, so seine
Zunge noch hervorbrachte, war Eurydice, da denn an beyden Ufern der Wieder-
schall auch nachsprach Eurydice! Eurydice!
ER-
ANMERKUNGEN.
3. Strymon.] Strymon und Hebrus, von dem etwas weiter" unter geredet wird, sind Flüsse in Thracien.
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