Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Picart, Bernard
Neueröffneter Musen-Tempel: welcher das allermerkwürdigste, aus den Fabeln der Alten in 60 auserlesenen und schönen Kupfern von Bernard Picart und andern kunstreichen Männern vorstellet ; mit deutlichen Erklärungen und Anmerkungen — Amsterdam u. Leipzig, 1754

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8922#0206

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
140 LI.
CASSANDRA.
Tunc etiam satis aper'tt Cajfandra suturis
Ora<i Dei juffu non unquam credita Teueris.
Virg. .^neid. z. vs. i\6.
Assandra, Tochter des Priamus , Königs von Troja , hatte den
Apollo entzündet, daher dieser Gott, um Kühlung feiner Flammen
von ihr zu erlangen, ihr erlaubete, alles von ihm zu begehren, was
sie nur wunsehete. Hierauf bat fie fich von ihm die Gabe zu weis-
sagen aus; und fiehe in dem Augenblicke stund alles zukünftige blos
und ofsen vor ihren Augen. Allein an ftatt , dass fie fich nunmehro mit aller
Zärtlichkeit hätte erkäntlich finden lafsen follen, bezeugte fie ihm nichts als lauter
Wiederwillen. Da nun Apollo fahe, dass feine Liebe und Willsährigkeit fo ubel
angewendet waren , gerieth er in Eyfer , und wolte den Betrug nicht ungeftraft
laffen: „ Dieweil es nicht in meinen Vermögen flehet, fagte er, dir das Gefchenk
„ wieder zu nehmen, welches dir meine blinde Neigung fo leichtsinnig mitgethei-
„ let hat, fo will ich dir es doch schädlich gnug feyn laffen. Kein Menfch foli
„ deinen Weilfagungen Glauben beymeifen, ja iie follen dir fonft nichts als Ver-
„ achtung und Hals zuwege bringen". Von derfelben Zeit an verkündigte
Casfandra ihrem ganzen Gefchlechte und Vaterlande alles Unglück vorher,
welches das Gefchicke über fie bringen wolte. Jedoch mochte der Ersolg ih-
re Propheceyung fo ost wahrmachen als er wolte, fo hielren fie die Trojaner
dem ungeachtet vor unfinnig. Als nun endlich die Griechen bey Nacht in
die Stadt gekommen waren, und allenthalben Mord und Brand anrichteten >
fo suchte Caffandra eine Freyftäte in dem Tempel der Minerva , deren Got-
zen-Bild sie mit ihren Armen unfafsete. Alleine der unbändige Ajax , Sohn des
Oileüs trug keine Scheu fie gleichfam in der Gottin Gegenwart zu entehren.
Da aber die Griechen nach der Zerftorung von Troja die Gefangenen unter
fich theileten , fiel Cassandra dem Agamemnon zu, welcher in fie verliebet
wurde. Als er fie nun mit sich wegsuhrete , fo zeigte fie ihm an , dafs er
von dem verrätherischen /Egisthus und der Clytemneftra, seiner Gemahlin wur-
de ums Leben gebracht werden: alleine diefer Weisfagung sand fo wenig Ge-
hör, als die übrigen. Inzwischen geschahe es, dass, als Agamemnon nach My-
cenae kam, Clytemnestra und ./Egifthus ihn bey einem Gaftmahle umbrachten,
und damit dem sterbenden Heide der Tod so viel bitterer werden solte , machten
sie auch die Casfandra vor seinen Augen nieder.
ERKLAERUNG DER FABEL.
Man findet in den alten Scribenten nichts, woraus man einige historische Er-
klärung dieser Fabel nehmen konte. Die allerwahrscheiniichste Muthmasung ift
inzwischen, dafs ein Priester des Apollo , dessen Augen diese Prinzessin Wohlge-
sallen, sie in derKunst zukunftige Dinge vorher zu sägen,und zwar entweder durch
... Zauberey oder nach heydnischen Aberglauben aus dem Eingeweyde der geopser-
ten Thiere, unterwiesen, und als er fie hernach nicht zur Gegenliebe bringen kön-
nen,
 
Annotationen