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Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte — 1.1884

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Mitteilungen und Berichte
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Sauer, August: [Rezension von: Wilhelm Scherer, Geschichte der deutschen Litteratur]
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https://doi.org/10.11588/diglit.52613#0326

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314 Mitteilungen und Berichte.

dings nicht bloß belehren, ſondern auch überzeugen — die Ueberzeugung wecken,
daß das Heil der deutſchen Kultur nur dort zu finden iſt, wo es unſere großen
Klaſſiker zu finden glaubten“.

Scherer hat die traditionelle Einteilung der älteren Litterarhiſtoriker ver—
laſſen. Die Abgrenzung in althochdeutſche, mittelhochdeutſche und neuhochdeutſche
Periode ſchien ihm nicht prägnant genug. Von der Blüteperiode der deutſchen
Litteratur an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts zurückrechnend, wurde
es ihm klar, daß die mittelhochdeutſche Blüteperiode an der Wende des 12. und
13. Jahrhunderts gerade um 600 Jahre abliege. Von dort aber zurückgehend
in die älteſten Zeiten germaniſchen Werdens und Wachſens, erſchloß ſich ihm bei
ſchärferem Zuſehen eine erſte reiche Blüteperiode deutſcher Litteratur, etwa um
600 ıu Chr., von welcher ſich freilich nur ein einziger dürftiger Reſt in dem
Hildebrandsliede bis auf unſere Tage gerettet hat. Langſam aber vollzog ſich
der Uebergang von einem dieſer Gipfel zum andern; der Weg führte durch Thäler
und Schluchten, durch düſtere, rauhe Wildnis, in welche ſelten der Sonnenglanz
der Schönheit erfreuend und verklärend hinabdrang. Im 9. Jahrhundert wie
im 16. iſt der verhältnismäßig niederſte Stand in der Geſchichte der poetiſchen
Entwickelung Deutſchlands zu verzeichnen; und wenn nicht alle Anzeichen trügen,
ſo geht auch jetzt der Götterwagen der deutſchen Poeſie raſch und unaufhaltſam
den unſicheren Tiefen zu, in denen die edeln Errungenſchaften unſerer klaſſiſchen
Perioden verloren zu gehen drohen. So verläuft die Geſchichte unſeres geiſtigen
Lebens in einem mehr oder weniger regelmäßigen Wechſel von 300jährigen
Perioden, von denen die ſpäteren in ihrem Verlaufe mitunter einen Schluß auf
die früheren mehr im Dunkel liegenden zu ziehen erlauben.

Dieſe geiſtreiche, vielbeſtrittene Hypotheſe liegt der Einteilung von Scherers
Buch zu Grunde. Aber ſelbſt die Gegner werden zugeben müſſen, daß Scherer
ſie mit äußerſter Vorſicht in die Darſtellung verflochten und ihr nirgends Kon—
zeſſionen gemacht hat, die von der reinen geſchichtlichen Wahrheit abführen könnten.

Das Werk zerfällt in dreizehn Kapitel von ungleicher Ausdehnung. „Das
erſte Kapitel“ — ich benütze die Worte der Einleitung — „ſucht die Wurzeln
germaniſcher Nationalität in der ariſchen Gemeinſchaft auf und ſchildert den
geiſtigen Zuſtand unſerer Ahnen in der Zeit, da ſie den Römern bekannt wurden.“
Es iſt die erſte befriedigende Zuſammenfaſſung der Reſultate der vergleichenden
Sprach-, Mythen- und Sagenforſchung, ſoweit ſie für den nächſten Zweck in
Betracht kommen, wie der germaniſchen Altertumskunde. Zu einer Reihe
brennender Streitfragen nehmen die kurzen, lapidaren Sätze der erſten Abſchnitte
Stellung; hier dttrfte es am ſchwierigſten geweſen ſein, allgemeine Verſtändlichkeit.
zu erſtreben. „Das zweite Kapitel behandelt die Entſtehung und Ausbildung der
deutſchen Heldenſage in der Epoche der Völkerwanderung und der Merowinger.“
Mit überraſchender Schnelligkeit werden wir in das vielverſchlungene Labyrinth
der Heldenſage eingeftthrt; das Hildebrandslied als einziger, ehrwürdiger Ueber—
reſt des verklungenen Heldenſanges wird in helle Beleuchtung geriickt, die gotiſche
Bibelüberſetzung gewürdigt, Ulfilas als Lehrer und Anreger ſeines Volkes geprieſen,
ſein mächtiger Einfluß geſchildert. Ulfilas hatte ohne Zweifel Mitarbeiter bei
ſeinem Werke; „aber ſein iſt der Anfang“ — ſagt Scherer ſchön —, „ſein iſt das
Beiſpiel, ſein iſt die Aufſicht, ſein das Verdienſt. Fremde Kräfte in den Dienſt
 
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