Zur Entwicklungsgeſchichte der abendländiſchen Weltanſchauung. 99
Bildung aller modernen Kultur zur Grundlage gab. Das Wichtige
für uns iſt, mit einem Wort die Natur der intellektuellen Arbeit
zu charakteriſieren, die Italien in jenen Jahren unaufhörlichen
faſt fieberhaften Schaffens vollbracht hat. Die italieniſche Re—
naiſſance war die Rehabilitierung der menſchlichen Natur; und der
Inſtinkt der Geſchichte hat ſich nicht geirrt, wenn er bis auf unſere
Tage die Repräſentanten jenes Zeitalters die Humaniſten, ihre
Kultux den Humanismus nennt. Das Mittelalter und dver
Katholizismus hatten die Gegenwart der Zukunft, die Freiheit
der Autoritgt, das Menſchliche dem Göttlichen untergeordntt. Die
italieniſche Renaiſſance kehrte die Dinge um. Für den naiven
Skeptizismus eines Lorenzo und Filelfoͤ, eines Angelo Poliziano
und Marſilio Ficino hatte nur die Gegenwaͤrt Realität, und in
dieſem Sinne follte ſie verſtanden, beſchrieben, genoſſen werden,
wie die Griechen zu Perikles' Zeitẽn ſie zu verſtehen, beſchreiben
und genießen verſucht hatten. Alles in der Natur war gut und
ſchön, der Inſtinkt war der ſicherſte Führer, natürliche Kraft und
Schönheit waren die echteſten Zeichen Und Rechtstitel der Superiori—
tät. Wir dürfen uns durch ihr formelles Feſthalten an der Kirche,
ſo wenig wie durch ihre Begeiſterung für Platos erhabenen Idealis—
mus irreführen laſſen. Die Kirche war ihnen nicht mehr als ein
gleichgültiges Gewand, das man nicht ohne Not gegen ein anderes
umtauſchen oder ganz und gar ablegen mag. Der Platonismus
war eine Form poetiſcher Träumerei, keine philoſophiſche Ueber—
zeugung, Das Ziel, das ſie verfolgten, war die Kenülnis der
menſchlichen Natur, der geiſtigen und phyſiſchen, und der menſch—
lichen Geſellſchaft, nicht wie beides ſein ſollte oder könnte, ſondern
wie es in Wirklichkeit war. Ob Macchiavelli politiſches Leben
beſchreibt, wie in ſeinem „Principe“, in ſeinen Dekaden, in ſeiner
Geſchichte von Florenz, oder ob er die ſozialen Zuſtände ſeiner
Zeit ſchildert wie in den Komödien, er gibt ſich nie mit der Frage
von Gut oder Böſe ab, er begnügt ſich die Dinge zu verflehen.
Ebenſo die Philoſophen, die Dichter, die Künſtler der Zeit. Ihnen
iſt die Kunſt das, wofür Goethe ſie erklärt, und was unſer Zahr—
hundert ſo gänzlich aus dem Auge verloren zu haben ſcheint —
„der Dolmetſch der Natur“, nicht mehr, noch weniger.
Dies hätte ebenſo harmlos' ſein können wie e8 richtig war,
wenn es auf die Kunſt und das Denken beſchränkt geblieben wäre,
Wex die Renaiſſance wollte Leben Und Handeln danach regeln.
Unſer Temperaltent und unſer geiſtiges Weſen geſtalten unſere
Neinungen, meiſt ohne daß wir 55 wiſſen. Die Sinnlichkeit ihres
Temperaments und Geiſtes machte die Italiener beſonders geeignet
zu ihrer hiſtoxiſchen Miſſion, aber ſie führte ſie ſo weit, daß ſie der
Strafe verfielen, die auf übermäßigem Verſinken in die eigenen
Gedanken und Neigungen ſteht. Sie ſahen alles im Lichtè der
Bildung aller modernen Kultur zur Grundlage gab. Das Wichtige
für uns iſt, mit einem Wort die Natur der intellektuellen Arbeit
zu charakteriſieren, die Italien in jenen Jahren unaufhörlichen
faſt fieberhaften Schaffens vollbracht hat. Die italieniſche Re—
naiſſance war die Rehabilitierung der menſchlichen Natur; und der
Inſtinkt der Geſchichte hat ſich nicht geirrt, wenn er bis auf unſere
Tage die Repräſentanten jenes Zeitalters die Humaniſten, ihre
Kultux den Humanismus nennt. Das Mittelalter und dver
Katholizismus hatten die Gegenwart der Zukunft, die Freiheit
der Autoritgt, das Menſchliche dem Göttlichen untergeordntt. Die
italieniſche Renaiſſance kehrte die Dinge um. Für den naiven
Skeptizismus eines Lorenzo und Filelfoͤ, eines Angelo Poliziano
und Marſilio Ficino hatte nur die Gegenwaͤrt Realität, und in
dieſem Sinne follte ſie verſtanden, beſchrieben, genoſſen werden,
wie die Griechen zu Perikles' Zeitẽn ſie zu verſtehen, beſchreiben
und genießen verſucht hatten. Alles in der Natur war gut und
ſchön, der Inſtinkt war der ſicherſte Führer, natürliche Kraft und
Schönheit waren die echteſten Zeichen Und Rechtstitel der Superiori—
tät. Wir dürfen uns durch ihr formelles Feſthalten an der Kirche,
ſo wenig wie durch ihre Begeiſterung für Platos erhabenen Idealis—
mus irreführen laſſen. Die Kirche war ihnen nicht mehr als ein
gleichgültiges Gewand, das man nicht ohne Not gegen ein anderes
umtauſchen oder ganz und gar ablegen mag. Der Platonismus
war eine Form poetiſcher Träumerei, keine philoſophiſche Ueber—
zeugung, Das Ziel, das ſie verfolgten, war die Kenülnis der
menſchlichen Natur, der geiſtigen und phyſiſchen, und der menſch—
lichen Geſellſchaft, nicht wie beides ſein ſollte oder könnte, ſondern
wie es in Wirklichkeit war. Ob Macchiavelli politiſches Leben
beſchreibt, wie in ſeinem „Principe“, in ſeinen Dekaden, in ſeiner
Geſchichte von Florenz, oder ob er die ſozialen Zuſtände ſeiner
Zeit ſchildert wie in den Komödien, er gibt ſich nie mit der Frage
von Gut oder Böſe ab, er begnügt ſich die Dinge zu verflehen.
Ebenſo die Philoſophen, die Dichter, die Künſtler der Zeit. Ihnen
iſt die Kunſt das, wofür Goethe ſie erklärt, und was unſer Zahr—
hundert ſo gänzlich aus dem Auge verloren zu haben ſcheint —
„der Dolmetſch der Natur“, nicht mehr, noch weniger.
Dies hätte ebenſo harmlos' ſein können wie e8 richtig war,
wenn es auf die Kunſt und das Denken beſchränkt geblieben wäre,
Wex die Renaiſſance wollte Leben Und Handeln danach regeln.
Unſer Temperaltent und unſer geiſtiges Weſen geſtalten unſere
Neinungen, meiſt ohne daß wir 55 wiſſen. Die Sinnlichkeit ihres
Temperaments und Geiſtes machte die Italiener beſonders geeignet
zu ihrer hiſtoxiſchen Miſſion, aber ſie führte ſie ſo weit, daß ſie der
Strafe verfielen, die auf übermäßigem Verſinken in die eigenen
Gedanken und Neigungen ſteht. Sie ſahen alles im Lichtè der