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Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte — 2.1885

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Hillebrand, Karl: Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Weltanschauung
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https://doi.org/10.11588/diglit.52690#0119

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Zur Entwicklungsgeſchichte der abendländiſchen Weltanſchauung. 107

Gedanken Frankreichs zu proteſtieren und das Reſtaurationswerk
auf einer feſteren Baſis zu beginnen als die, welche Spanien
zwei Jahrhunderte früher zu legen verſucht hatte. Es wäre
intereſſant, etwas ausführlicher darzuſtellen, wie Deutſchland ſich
auf dieſe Aufgabe vorbereitete, wie es ſie vollbrachte, welche Re—
ſultate erzielt wurden. Um dies richtig darzuſtellen, müßte man
indes nachweiſen, wie es einen Teil ſeiner intellektuellen Freiheit
England verdankte, wie es ohne Frage von dort her den Anſtoß
zu ſeinem eigenen Schaffen empfing, wie es Philoſophie und Ge—
ſchichte erneuerte und verſchiedene neue Wiſſenſchaften ſchuf, die
ſeitdem ihren Platz unter den großen Errungenſchaften des menſch—
lichen Geiſtes eingenommen haben. Es genüge zu konſtatieren,
daß ebenſo wie der franzöſiſche Rationalismus, der engliſche Em—
pirismus, die ſpaniſche Dogmatik und der italieniſche Humanismus
ſeit lange integrierende Beſtandteile der geiſtigen Verfaſſung Europas
ſind, ſo Deutſchland ein für allemal die Idee des „Organismus“ dem
europäiſchen Denken zugebracht hat. Wir können in der That weder
den Homer im ſelben Geiſte leſen, wie unſre Vorväter ihn laſen,
ehe Wolff ſeine Prolegomena geſchrieben, noch die Natur mit den—
ſelben Augen anſehen, wie wir ſie vor Newtons Principia angeſehen
hätten, den Staat wie vor Montesquieus Esprit des Iois.

Wir haben ein gemeinſames Kapital von Ideen, an welchen wir
alle zehren, in denen wir leben, oft ohne uns deſſen recht bewußt
zu ſein. Laſſen wir ſelbſt den gläubigſten Katholiken ſich fragen, ob
er die Geſchichte der Menſchheit noch ſo anſehen könnte, wie es
der hl. Thomas und der hl. Dominikus thaten, ehe die italieniſche
Renaiſſance gleichſam den Zuſammenhang der Geſchichte hergeſtellt
und den Abgrund ausgefüllt hatte, der die Menſchheit entzwei
ſchnitt. Wer könnte wohl heutzutage öffentliches und privates Leben
mit derſelben grundſatzloſen Naivetät betrachten, wie die Zeitgenoſſen
Macchiavellis, ehe Spanien das Autoritätsprinzip wieder hergeſtellt
hatte? Wer könnte ferner nur einen Augenblick die phyſikaliſchen
Entdeckungen des 17. Jahrhunderts vergeſſen und ſich die Erde,
wie Dante, als den Mittelpunkt der Schöpfung denken? Und iſt
es nicht mit unſern politiſchen und philoſophiſchen Anſichten das—
ſelbe? Hat die Anwendung der franzöſiſchen rationaliſtiſchen Methode
nicht unſern Geiſt neu gemodelt? Könnten wir noch, ſelbſt wenn
wir wollten, das göttliche Recht der Monarchie oder die Offen—
barung ſo anſehen wie Boſſuet und Fenelon? Nun hat etwas
Analoges ſeit Voltaixes und Rouſſeaus Tode ſtattgefunden. Ein
anderer neuer Gedanke iſt integrierender Beſtandteil des europäiſchen
Geiſtes geworden. Hume könnte ebenſowenig ſeinen Eſſay über
„National Character“ heute ſchreiben, wie Auguſtin Thierry im
vorigen Jahrhundert ſeine „Oonquéte d'Angleterre“ hätte verfaſſen
können, oder irgend jemand in unſerer Zeit Voltaires, Pucelle“.“
 
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