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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1926)
DOI Artikel:
Trentini, Albert; Molo, Walter von: Offene Briefe, [1]: Albert Trentini an Walter von Molo [und] Walter von Molo an Albert Trentini
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0228

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XXXix-

Offene Briefe

i.

AlbertTrentini an Walter oon Molo

Wien, 20. Dezember ig2Z.

^ieber Walter! Fröhliche WeihnachLen! Gutes Nenes Jahr! Jch benütze mit
^ Wonne auch diese traditi'onelle, konventionelle und außerdem gewöhnlich erfolg-
^Zose Gelegenheit, um Dich meiner Teilnahme für die nächsten zwölf Monate zu
versichern. Auf diese Weise bift Du der erste Mensch, dem ich heuer gratuliere.
Die andern haben sich endlich daran gewöhnt, mir zu glauben, daß ich ihnen alles
Gute wünsche, ich selber aber bin, wie Du weißt, kein Feierer von Festen. Säßen sie
mir nicht ex avis im Gehirn drin — nicht in der Seele, mein Freund! — und sürchtete
ich nicht, jedesmal jemand tödlich zu beleidigen, wenn ich mich ihrer nicht erinnerte
— ich wäre der ewige Werktag! Der Werktag ist meine Lust! Es kann einfach
nicht genug Werktage geben! Der Sonntag, wenn die LebenS-Maschine der Stadt
ihren Motor drosselt und Du die Menschen auf der Straße zählen kannst, und sie
ohnmächtig wahlunfähig zwischen Kino und Diele dahinschleichen wie Fliegen im
Oktober auf einer blinden Scheibe, — brr! Da lob ich mir den Montag Morgen!
Der Briefträger muß wieder mittun, das Telefon klingelt schon nm sieben Uhr
dringend, keine Viertelstunde vergeht, ohne daß die Flurglocke (sagt man nicht so in
Berlin?) läutet, „ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht!" flucht man tief-
glücklich, die Menschen, wohin Du blickst, müssen wieder schuften, sich schinden, sich
abrackern, hunderttausend viel zu spät geborene Esel und Gänse schimpfen dabei
allerdings über den „Alltag", — ich liebe den Alltag! Er kann mir nicht .grau
genug sein, nicht prosaisch genug; nicht monoton genug; ich sprieße im Alltag
wie eine Blume im Treibhaus; wozu ist man denn Mensch, um nichit gerade in
der Eintönigkeit sich den inneren Klang zu erschmieden, gerade im Trott in den Galopp
zu verfallen, und gerade über dem gefrorenen Meer von farblosen Großstadtöächern
im November die strahlende Gondel seineS glühendsten Glaubens hinsausen zu machen?
Jch habe niemals die Sonntage gemocht; niemals viele wolkenlose Tage; niemals
die raffinierten und die pompösen Frauen, auf die jeder Kellner hereinfällt; niemals,
mit einem Wort, die „billigen Gelegenheiten", wie zum Beispiel auch: den Mond,
den Mai, Sonnenuntergänge, „die blaue Adria". Mag meine Poesie schlecht sein;
daS Eine schwör' ich Dir: ich habe jedeö Gedicht, kleines oder großes, auö dem Staub
herauf gemacht. Jch liebe den Staub! Und ich habe nichtS dagegen, einer zu
werden.

Wie aber, Walter, da ich Dir schon zu diesem „Anlaß", oder „aus" diesem Anlaß
schreibe: wie gefällt Dir die Welt zu Ende ig2Z? Jch sehe, wie Du bei dieser Frage
deinen bedeutenden Schädel (ich meine es ernst!) in die Hände stützest, der schöne
Schopf sich auf dem Scheitel zu bäumen beginnt, drei Furchen die Stirn in lohes
Licht und gefährlichste Schatten teilen, die Unterlippe wütend sich vorwölbt, das
Gehege der knacklustigen Zähne erscheint, und das Wort schon geboren werden will,
das furchtbare Wort: „Berbrechen des UngenügenS rundum ist d!e Welt zu Ende

1925!"

Januarheft iga6 (XXXIX, 4)

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