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zweite ein Wetterauer. Die dritte ein Franke.
Die vierte und so immer — die letzte ein westsälin-
ger Graf.
Nun war jedoch seit Kaiser Joseph's Krönung
der Tod auf manchem Grafenschlosse erschienen,
und da jetzt auch der Herr v. Pappenheim an
der Fahrt gen Frankfurt verhindert wurde, so
befand sich diesmal das Hofküchenamt wegen des
Schüsselntragens in großen Nöthen.
Entsetzliche Entdeckung! Zum ersten Male
konnte dieser uralte Turnus nicht eingehalten
werden! Der Tod, der eine ungleiche Zahl von
Erlauchten abgerufen, und der Herr v. Pappen-
heim waren Schuld.
Der Hofküchenamtsverweser machte ein Ver-
zeichniß nach dem andern und schrieb und rech-
nete. Immer umsonst! Der uralte Turnus kam
diesmal nicht heraus — die letzte Schüssel fiel
keinem westfälinger, sondern wieder einem schwä-
bischen Grafen zu.
Was war zu thun? Nach ausführlichster Er-
örterung des Hofküchenamtes begab sich der Hof-
küchsnamtsverweser zur Reichserbmarschallamts-
Deputation nach Offenbach hinaus.
Die Pcrrückenköpfe versicherten ihm: kein schwä-
bischer Graf würde sich herbeilassen, die letzte
Schüssel zu tragen, und der Turnus müßte ein-
gehalten werden. Aber das Wie? wäre nicht
ihre, sondern seine Sache.
Klug wie zuvor kehrte der Hofküchenamts-
verweser nach Frankfurt zurück. Er schrieb und
rechnete wieder die ganze Nacht hindurch, und
gegen Morgen kam ihm ein Einfall. Abermals
nach Offenbach hinaus und —
„Excellenzen gehorsamst zu bedenken zu geben,
daß der Turnus zu Kraft bestehen könnte, sobald
Excellenzen gnädigst bewilligen möchten, daß dis
siebenunddreißigste Schüssel vom Küchenzettel ge-
strichen werden dürfte."
Die Deputation ließ ihre erstauntesten Blicke
auf dem Manne ruhen. Mit diesem Ansinnen
wagte er vor ihr zu erscheinen! Wurden nicht
alle Küchenzettel seit Kaiser Rudolfus im Archive
verwahrt? Wies nicht ein jeder dieser Zettel
siebenunddreißig Schüsseln aus? — Und jetzt kam
dieser Mann und verlangte Kürzung des Küchen-
zettels, der anno Domini Zwölshundertdreiund-
siebenzig berathen, verfaßt und sanktionirt worden
war?!
Die Excellenzen gaben dem geplagten Hof-
küchenamtsverweser ihr ganzes Mißvergnügen mit
auf den Weg. Er zog sich in Frankfurt in den
entlegensten Winkel zurück und quälte sein Gehirn,
um einem neuen Einfall auf die Spur zu kom-
men. Und nicht minder quälte sich die Depu-
tation in Offenbach. Es mußten siebenunddreißig
Schüsseln sein! Und ein westfälinger Gras mußte
die letzte Schüssel tragen! Falls das nicht ge-
schehen würde — mit welchen Augen hätte dann
die Nachwelt gegenwärtige Reichserbmarschallamts-
Deputation zu betrachten!
Große Schweißtropfen perlten aus den Stir-
nen der Perrückenköpfe. Sie sannen und konferir-
ten Tage lang. Wie den Ausgang aus diesem
Jrrsal finden? — Und da mit einem Male, da
glückte es einem plötzlich Erleuchteten, nicht nur
eine Ausgangsspalte, sondern eine große, weite
Ausgangspforte zu entdecken.
Den Namen dieses Weisen hat das Historien-
buch leider nicht aufbewahrt: das aber weiß man
gewiß, daß er den staunenden College» die Worte
zurief:
„Man verwandle die siebenunddreißigste
Schüssel in vier kleine Schüsseln!"
Das Staunen ringsum löste sich aber sofort
in Widerspruch auf. Dann würde ja doch der
uralte, sanktionirte Küchenzettel nicht eingehalten
werden, der seit rwuo Domini Zwölfhundert-
und-
„Doch, doch!" ließ der Weise seinen Geist in

dieses Chaos leuchten. „Vier kleine Schüsseln sind
und bleiben nach mathematischer Berechnung eine
große Schüssel, sintemal vier Viertel ein Ganzes
sind und ewig bleiben werden!"
Das war entschieden groß gedacht, und aller
Widerspruch schlug nun wieder in Staunen um.
„Damit wäre dann alles erreicht," schloß der
Redner seine Weisheit ab. „Streng genommen,
bleiben diese vier kleinen eine große Schüssel, und
folglich bleibt uns unser Küchenzettel mit sieben-
unddreißig Schüsseln erhalten! Gehen wir in-
dessen noch weiter, hochgeehrte Versammlung.
Mathematisch berechnet stimmt in dieser Weise
nicht nur die Schüfselfrage, sondern auch dis
Tafelauftragungsfrage wird zum gewünschtesten
Abschlüsse gebracht. Der sanktionirte Turnus bleibt
uns erhalten — zählen Sie doch die Namen der
Reichsgrafen und von der ersten bis Zur letzten
Viertel-Schüssel: dann ist nicht ein schwäbischer,
sondern, in Gemäßheit alter Sitte, ein west-
fälinger Graf der letzte Schüsselträger!"
Welch' ein Licht nach dieser Finsterniß! So-
fortige Abstimmung und einstimmiges Ja. War
nicht die Deputation wie von einem Alpe erlöst?
Jetzt brauchte sie die Augen der Nachwelt wahr-
lich nicht zu fürchten!
Ein M68sag'6r ü elloval sprengte mit einem
großen Schreiben zum Hosküchenamtsverweser nach
Frankfurt.
Dem fiel nun auch ein Berg von der Brust.
Zwar schien ihm dieser Bescheid der Reichserb-
marschallamts-Deputation auf keinen gesunden Fü-
ßen zu stehen, allein die Reklamation war seines
Amtes nicht. Vier kleine statt der Einen großen
Schüssel — einerlei und gut und abgemacht!
In Offenbach gab's jetzt noch vielerlei zu be-
denken und zu arrangiren, zu empfangen und zu
prüfen. Jedoch im Vergleich zum Gesuchs des
Grafen v. Pappenheim und der Schüssel- und
Tafelaustragungssrage war alles, was jetzt noch
folgte, ein wahres Kinderspiel. Die Deputation
seufzte freilich bei jeder Kleinigkeit, weil das zu
ihrem Geschäfte gehörte, aber Schweißtropfen
stellten sich glücklicherweise nicht wieder ein.
Und eines Tages verhallte auch der letzte
Seufzer, und in gehobenster Stimmung kutschirte
die Reichserbmarschallamis-Deputalion nach Frank-
stert zurück. Blumen und Fahnen, Geigen und
Flöten, Pauken und Trompeten, Kanonendonner
und Vivatgeschrei:
Leopold der Zweite zog zur Krönung in Frank-
furt ein._
Auf dunklen Wegen.
Roman
von
Samtyn Smytlj-
(Fortsetzung.)
Als Louise Grantham verschwunden war, fiel
der Directrice dies natürlich sofort wieder ein und
sie maß das Verbrechen dieser abermaligen Ent-
führung, wenn eine solche vorlag, wieder der
Person bei, welche sich einer solchen That bereits
früher schuldig gemacht.
Dennoch aber war Louise jetzt ein fast erwach-
senes Mädchen und konnte es nicht mehr so leicht
sein, sie mit Gewalt fortzuschleppen, wie da sie
noch Kind gewesen.
Wenn jene alte Frau wirklich die Thäterin
war, so mußte sie den Raub mit Hilfe einiger
Männer vollsührt haben, welche Gewalt angewen-
det und es dem Mädchen unmöglich gemacht hat-
ten, sich zu wehren oder um Hilfe zu rufen.
Dennoch blieb die Sache immer noch sehr
seltsam, denn Louise war augenscheinlich aus dem
Garten verschwunden, während die übrigen Schü-
lerinnen sich in Unmittelbarer Nähe befunden
hatten. !

Das geringste Geräusch würde sofort Auf-
merksamkeit erweckt und Beistand herbeigerufen
haben.
Betrachtete man die Sache von dieser Seite,
so konnte man blos zu Einem Schluffs kommen,
nämlich zu dem, daß Louise Grantham sich frei-
willig entfernt habe.
Daß sie es vielleicht aus thörichter, über-
spannter Liebe zu irgend einem unwürdigen Aben-
teuer gethan, ließ sich nicht wohl annehmen, denn
dazu war sie noch zu jung.
Die ganze Sache war mit einem Worte ein
Geheimniß und schien ein solches bleiben zu sollen,
denn nach noch einigen vergeblichen Lösungsver-
suchen schrieb Madame Deville einen zweiten Bries
an Gilbert, in welchem sie verzweiflungsvoll auf
die Möglichkeit hindeutete, daß das Mädchen sich
doch vielleicht von einem gewissenlosen Wüstling
habe verleiten lassen, mit ihm die Flucht zu er-
greifen.
Auch auf diesen Bries bekam die Directrice
zu ihrer großen Verwunderung sehr lange keine
Antwort. Sie wunderte sich über diese anschei-
nende Gleichgiltigkeit, und da eine Woche nach
der anderen verging, ohne daß ihr von dieser
Seite irgend welche Kunde zuging, so zog sie hier-
aus den menschenfreundlichen Schluß, daß die
Liebe, welche Louisens Pflegevater an den Tag
gelegt, nichts als Verstellung und Heuchelei ge-
wesen sei.
Sie ging sogar noch weiter und deutete dann
und wann auf die Möglichkeit hin, daß „Mon-
sieur" Gilbert um die Entführung gewußt, daß
er vielleicht sogar selbst dabei betheiligt sei.
Dis Gründe, die sie für eine solche Voraus-
setzung anführte, waren jedoch von sehr unbestimm-
ter und unhaltbarer Art.
In diesem ungenügenden Zustande blieben dis
Dinge geraume Zeit.
Gilbert Grantham und Theophilus Bickley
weilten immer noch in Baden-Baden.
Sie hatten freilich fast alle Hoffnung auf-
gegeben, denn ihre Anstrengungen wurden, moch-
ten sie dieselben dieser oder jener Richtung zu-
wenden, allemal vereitel und blieben fruchtlos.
Als die alte Frau in dem Hotel de Fribourg
erschien, um ähnliche Nachfragen anzustellen, wie
die von ihnen gehaltenen, gaben sie sich wieder
einmal der Hoffnung hin, daß sie endlich den
richtigen Schlüssel gefunden hätten.
Es war aber blos eine neue Enttäuschung,
die ihrer harrte. Die alte Frau, die, wie sie
fest überzeugt waren, keine andere gewesen sein
konnte als Rebekka Grimstone, ließ sich nicht wie-
der sehen.
Man stellte Nachforschungen und Nachfragen
in der ganzen Stadt an, aber nirgends war etwas
über sie zu erfahren.
„Eins wenigstens," sagte Bickley, „scheint da-
durch bestätigt zu werden, nämlich, daß Benjamin
Galton hier gewesen ist und aller Wahrscheinlich-
keit nach auch noch hier weilt."
„Das möchte ich nicht glauben," entgegnete
Grantham. „Rebekka Grimstone hat sich, wie mir
scheinen will, in dem Hotel zu Paris erkundigt
und ist nun hierhergekommen, mm ihn aufzu-
spüren."
„Und um ihm zu sagen, daß Louise ihrer
Gewalt entrissen worden, meinst Du?"
„Ja, wahrscheinlich ist dem so."
„Ja, ja," meinte Theophilus Bickley mit nach-
denklicher Miene. „Es läßt sich fast mit Gewiß-
heit annehmen, daß Galton von der Thatsache,
daß dieses Mädchen — seine Enkelin — der Ob-
hut dieser alten Hexe anvertraut worden, Kennt-
niß hat; aber es ist schwer, den Grund anzngeben,
aus welchem man sie solchen Händen überlasten
hat. Mir scheint das Geheimniß geradezu un-
durchdringlich zu sein."
„Undurchdringlich?" wiederholte Grantham.
 
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