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Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 2): Die Maler. Die Architekten. Die Toreuten. Die Münzstempelschneider. Die Gemmenschneider. Die Vasenmaler — Stuttgart, 1889

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https://doi.org/10.11588/diglit.4969#0200

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190 Die Maler.

des Beschauers zu fesseln. Aber während wir bei jener über den Mangel an
eigentlichem poetischen Schöpfungsvermögen klagten, mussten wir doch zu-
geben , das auch bei dieser der reichere Gehalt an poetischen Motiven zu sehr
nur für äussere Effecte benutzt wurde. Das grosse Verdienst, des Timomachos
besteht nun darin, dass er die Vorzüge beider Richtungen in sich zu vereinigen
weiss. Seine berühmtesten Werke sind, äusseriieh betrachtet, Gompositionen
der einfachsten Art, welche dem Künstler jede Einzelnheit bis ins Feinste zu
vollenden erlauben. Aber zugleich enthalten sie einen inneren Reichthum
poetischer Motive, der uns nicht blos für das Fehlen einer mannigfaltigeren Be-
wegung entschädigt, sondern unsere Einbildungskraft noch weit mehr ahnen
lässt, als je ein Künstler in einem Gemälde hätte darstellen können. Ich setze
hierher, was Lessing1) über diese Bilder bemerkt: „Aus den Beschreibungen
erhellt, dass Timomachos jenen Punkt, in welchem der Betrachter das Aeusserste
nicht sowohl erblickt, als hinzudenkt, jene Erscheinung, mit der wir den Be-
griff des Transitorischen nicht so nothwendig verbinden, dass uns die Ver-
283 längerung derselben in der Kunst missfallen sollte, vortrefflich verstanden und
mit einander zu verbinden gewusst hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augen-
blicke genommen, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern einige
Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpft.
Wir sehen das Ende dieses Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald
bloss die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungskraft geht weit
über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen Augenblicke
zeigen könnte. Aber eben darum beleidigt uns dio in der Kunst fortdauernde
Unentschlossenheit der Medea so wenig, dass wir vielmehr wünschen, es wäre
in der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leidenschaften hätte sich
nie entschieden, oder hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Ueber-
legung die Wutb entkräften und den mütterlichen Empfindungen den Sieg ver-
sichern können. . . . Ajax erschien nicht, wie er unter den Heerden wüthet,
und Rinder und Böcke für Menschen fesselt und mordet. Sondern der Meister
zeigte ihn, wie er nach diesen wahnwitzigen Heldenthaten ermattet dasitzt, und
■den Anschlag fasst, sich selbst umzubringen. Und das ist wirklich der rasende
Ajax; nicht, weil er eben jetzt raset, sondern weil man sieht, dass er geraset
hat; weil man die Grösse seiner Raserei am lebhaftesten aus der verzweiflungs-
vollen Scham abnimmt, die er nun selbst darüber empfindet. Man sieht den
Sturm in den Trümmern und Leichen, die er an das Land geworfen." Wenn
sonach die Leistungen des Timomachos als das Resultat der verschiedenen Be-
strebungen erscheinen, welche sich um die Zeit Alexanders den Vorrang streitig
machen , wo wäre da wohl in der Entwickelungsgeschichte der Kunst für ihn
ein so geeigneter Platz, als in der Periode der Diadochen? Für diese Ansicht
findet sich aber endlich noch eine schlagende Parallele in der Geschichte der
Bildhauerei. Der Aias des Timomachos ist das vollkommene malerische Gegen-
stück zu dem plastischen Werke des Aristonidas: Athamas, wie er nach der
Tödtung seines Sohnes Learchos reuig dasitzt (vgl. Th. I, S. 325). Dieser Ver-
gleich ist um so treffender, als wir nicht mit Unrecht die ganze Auffassung

) Laokoon, Kap. 3.
 
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