TIEPOLOS SCHLÄCHTENBILDER IN
WIENER PRIVÄTBESITZ Von J. v. DERSCHÄU
Mit 5 Abbildungen
Secolo frullo — Lärm- oder Quirljahrhundert — nennt der Graf Francesco Alga-
rotti feine Zeit an einer Stelle feiner Lettere sopra la pittura. Er begründet die
Bezeichnung nicht näher. Aber fie bezieht fich wohl auf die Vorftellung braufenden
Brodelns, die in uns wach wird, wenn wir hinblicken über die kontraftreiche Neben-
einanderfchichtung heterogenfter Kulturelemente in jener Epoche. Aufklärung und
Mgftik, Naturalismus und romantifche Märchenträumereien, frivoles Freidenkertum
und Bigotterie, ftarkes Ringen um neue politifche und künftlerifche Ideale und leicht
dahintändelndes Genußleben, fcharfe diftinguierende Verftandesarbeit und Schwelgen in
hinfchmelzendem Gefühl.
Kontraftreich wie das Gefamtbild der Zeit auch das Leben des Einzelnen. Der
Aventurier ift die charakteriftifche Erfcheinung. Lebensführungen des Rokoko haben
oft etwas Buntes, Kraufes, Unvermitteltes. Was ift Goldoni nicht alles gewefen, bis
ihm fein Lebensziel klar vor Augen ftand, oder man denke gar an Cafanova! Die
Menfchen fcheinen die Geftaltung ihres Lebens nicht felbft kraftvoll in die Hand zu
nehmen, fondern fich treiben zu laffen. Sequere deum! ift die Devife Cafanovas. Sie
find weder örtlich noch beruflich feftgewurzelt und gelangen fo in die widerfprechend-
ften Situationen. Im bunten Wechfel fcheinen fie fich wohl zu fühlen, mit virtuofer
Gewandtheit fchmiegen fie fich an und tauchen aus dem Strudel der Fährlichkeiten
fcheinbar kampflos wieder auf. Daher kann man, was Monnier von den Memoiren
Goldonis fagt, pe läfen fich wie eine feiner Komödien, bei einer Reihe damaliger
Memoiren konftatieren. Diefe Menfchen fcheinen vom Kontraft zu leben. An einem
beftimmten feftlichen Tage des Jahres pßegt fich eine italienifche Akademie zu ver-
fammeln. In den gelehrten Kreis wird ein Kind geführt. Was es auf eine ihm vor-
gelegte Frage antwortet, wird als Orakel gefchätjt, und einer der Akademiker beftimmt,
der über die Antwort des Kindes eine Stegreifrede zu halten hat. Diefes Zufammen-
koppeln unüberlegten kindlichen Stammelns mit der Geiftesarbeit des reifen Gelehrten,
diefes Zufammenketten heterogenfter Dinge, das reizt ebenfo, wie bei jener Tragödin,
die im Zwifchenakt im Koftüm ihrer tragifchen Rolle „Furlana“ tanzt. Hiermit hängt
die Liebe der Zeit zufammen für alles Überrafchende, für den Impromptu, für den
Capriccio.
So ift es erklärlich, daß auch die Rokokomalerei Venedigs die Kontraftwirkung
nicht nur kennt, fondern daß das secolo frullo diefes am Ende des Quattrocento auftre-
tende Kunftmittel zum Höhepunkt entwickelt hat. Die Kontraftwirkungen der vene-
zianifchen Figurenmalerei im XVIII. Jahrhundert befchreiben, heißt faft den Stil der
Leßteren analyfieren. Die fafzinierende Wirkung der Kunft Tiepolos beruht letjten
Endes auf der genialen Affimilierung zweier Extreme. Unverkennbar find die Figuren
Tiepolos die Menfchen des Rokoko Venedigs. Die große Summe von Naturalismus
ift das eine Element feiner Malerei. Wie diefes nun aber durch den Zauber des
Lichtes und der Farbe, durch den phantaftifchen Aufpu^ der Szene, durch die Steige-
rung der Gewandung und der Typen in das Bereich des Unwirklichen gerückt wird,
das ift der zweite Beftandteil feiner Kunft. Durch diefe Verbindung von Naturalismus
und Phantaftik wird er Märchenerzähler und geht als folcher in der Richtung Carpaccios
weiter. Was auf literarifchem Gebiet im venezianifchen XVIII. Jahrhundert in den
beiden Antipoden Goldoni und Carlo Gozzi getrennt bis zum äußerften entwickelt ift,
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WIENER PRIVÄTBESITZ Von J. v. DERSCHÄU
Mit 5 Abbildungen
Secolo frullo — Lärm- oder Quirljahrhundert — nennt der Graf Francesco Alga-
rotti feine Zeit an einer Stelle feiner Lettere sopra la pittura. Er begründet die
Bezeichnung nicht näher. Aber fie bezieht fich wohl auf die Vorftellung braufenden
Brodelns, die in uns wach wird, wenn wir hinblicken über die kontraftreiche Neben-
einanderfchichtung heterogenfter Kulturelemente in jener Epoche. Aufklärung und
Mgftik, Naturalismus und romantifche Märchenträumereien, frivoles Freidenkertum
und Bigotterie, ftarkes Ringen um neue politifche und künftlerifche Ideale und leicht
dahintändelndes Genußleben, fcharfe diftinguierende Verftandesarbeit und Schwelgen in
hinfchmelzendem Gefühl.
Kontraftreich wie das Gefamtbild der Zeit auch das Leben des Einzelnen. Der
Aventurier ift die charakteriftifche Erfcheinung. Lebensführungen des Rokoko haben
oft etwas Buntes, Kraufes, Unvermitteltes. Was ift Goldoni nicht alles gewefen, bis
ihm fein Lebensziel klar vor Augen ftand, oder man denke gar an Cafanova! Die
Menfchen fcheinen die Geftaltung ihres Lebens nicht felbft kraftvoll in die Hand zu
nehmen, fondern fich treiben zu laffen. Sequere deum! ift die Devife Cafanovas. Sie
find weder örtlich noch beruflich feftgewurzelt und gelangen fo in die widerfprechend-
ften Situationen. Im bunten Wechfel fcheinen fie fich wohl zu fühlen, mit virtuofer
Gewandtheit fchmiegen fie fich an und tauchen aus dem Strudel der Fährlichkeiten
fcheinbar kampflos wieder auf. Daher kann man, was Monnier von den Memoiren
Goldonis fagt, pe läfen fich wie eine feiner Komödien, bei einer Reihe damaliger
Memoiren konftatieren. Diefe Menfchen fcheinen vom Kontraft zu leben. An einem
beftimmten feftlichen Tage des Jahres pßegt fich eine italienifche Akademie zu ver-
fammeln. In den gelehrten Kreis wird ein Kind geführt. Was es auf eine ihm vor-
gelegte Frage antwortet, wird als Orakel gefchätjt, und einer der Akademiker beftimmt,
der über die Antwort des Kindes eine Stegreifrede zu halten hat. Diefes Zufammen-
koppeln unüberlegten kindlichen Stammelns mit der Geiftesarbeit des reifen Gelehrten,
diefes Zufammenketten heterogenfter Dinge, das reizt ebenfo, wie bei jener Tragödin,
die im Zwifchenakt im Koftüm ihrer tragifchen Rolle „Furlana“ tanzt. Hiermit hängt
die Liebe der Zeit zufammen für alles Überrafchende, für den Impromptu, für den
Capriccio.
So ift es erklärlich, daß auch die Rokokomalerei Venedigs die Kontraftwirkung
nicht nur kennt, fondern daß das secolo frullo diefes am Ende des Quattrocento auftre-
tende Kunftmittel zum Höhepunkt entwickelt hat. Die Kontraftwirkungen der vene-
zianifchen Figurenmalerei im XVIII. Jahrhundert befchreiben, heißt faft den Stil der
Leßteren analyfieren. Die fafzinierende Wirkung der Kunft Tiepolos beruht letjten
Endes auf der genialen Affimilierung zweier Extreme. Unverkennbar find die Figuren
Tiepolos die Menfchen des Rokoko Venedigs. Die große Summe von Naturalismus
ift das eine Element feiner Malerei. Wie diefes nun aber durch den Zauber des
Lichtes und der Farbe, durch den phantaftifchen Aufpu^ der Szene, durch die Steige-
rung der Gewandung und der Typen in das Bereich des Unwirklichen gerückt wird,
das ift der zweite Beftandteil feiner Kunft. Durch diefe Verbindung von Naturalismus
und Phantaftik wird er Märchenerzähler und geht als folcher in der Richtung Carpaccios
weiter. Was auf literarifchem Gebiet im venezianifchen XVIII. Jahrhundert in den
beiden Antipoden Goldoni und Carlo Gozzi getrennt bis zum äußerften entwickelt ift,
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