Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 7.1915

DOI issue:
Heft 5/6
DOI article:
West, Robert: Bernhard Hoetger und die Stilwandlung des 20. Jahrhunderts
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.26376#0123

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
BERNHARD HOETGER UND DIE STIL-
WÄNDLUNG DES 20. JAHRHUNDERTS

Mit 13 Abbildungen Von ROBERT WEST1

Bernhard Hoetgers Schöpfungen im Darmftädter Platanenhain find der Anfang einer
neuen Plaftik. Mit diefer neuen Formenfprache beginnt der noch unbenannte neue
Stil unferer Zeit. Deshalb find diefe Arbeiten dem Laienpublikum meift noch unver-
ftändlich. Für diefe Sprache kennt es zunächft keine Analogien oder doch nur folche,
die es in fernften Urzeiten der Kunft taftend fuchen muß. Die landläufigen Begriffe
von „fchön“ und „häßlich“ verfagen hier völlig. Außer Zweifel bleibt uns, daß es
fich bei diefen viel umftrittenen Reliefs um die Kunftwerke eines wirklichen Neufchöpfers
handelt. Darum erfcheint es notwendig, die philofophifche Begründung diefer ftrengen
und rückfichtslofen Kunft zu finden, um fie als berechtigte, von der Zeit geborene Er-
fcheinung ihrem vollen Werte nach zu würdigen. Das läßt fich aber nur auf dem
Wege der vergleichenden Gefchichtsbetrachtung tun.

Jede Epoche ftarker Wandlung, fei es in religiöfer, in völkifcher oder kultureller
Hinficht, hat fidi neue Ausdrucksformen gefucht und ihr Schaffen neuen Schönheits-
gefetjen unterteilt. Unwillkürlich, dem Zwang innerer Notwendigkeit gehorchend, hat
jede folche Epoche fich eine eigene Formenfprache gebildet, die wir als ihren Stil
bezeichnen. Diefer neue Stil erwächft einerfeits aus der Umbildung der Formenfprache,
von der er fich loszuringen beftrebt ift, andrerfeits aus dem Verfuch einer Sprachreini-
gung. Neubildungen, von der Natur erlernt oder in glücklichen Stunden als Ein-
gebungen empfangen, Wiederaufnahmen und Belebungen längft erftorben fcheinender
Ausdrucksformen treten hinzu. Je nach dem fchöpferifchen Genie der neueinfetjenden
Periode ift das Verhältnis des Neuwerdenden zum Umgebildeten. Im Barock z. B.
überwiegt die Umbildung der vorhergehenden Sprachformen, im Rokoko die Sprach-
reinigung, wo hingegen pch in der Renaiffance und vor allem in der Gotik das Neu-
werdende mit Macht behauptet, während in der frühchriftlichen Antike, wie es fchon
der Name befagt, die beiden Elemente neuer Stilbildung in gleichem Maße wirkfam
waren. Den Anfängen jedes neuen Stils, fo lange diefer noch im Werden begriffen
ift, haftet etwas Unausgeglichenes, Gewaltfames, herb Unreifes an, das mit dem populären
Wort „häßlich“ bezeichnet werden kann. Wir empfinden die Stilanfänge der diriftlichen
Kunft, der Gotik, der Renaiffance jedoch nicht mehr als häßlich, weil wir fie im Lichte
des zur Zeit der vollendeten Stilentwicklung Geleifteten verftehen können. Für die
Unfelbftändigen tut hier allerdings die Macht der Gewohnheit viel fowie die Suggeftion
oft wiederholter kunftgefchichtlicher Phrafen. Alle diefe zugunften jahrhundertealter
Stilanfänge redenden Momente fallen aber für den Laien fort, fobald er fich an einen
Stilanfang unferer eigenen Gegenwart ftößt. Wir find fo fehr gewohnt, Erben
zu fein, daß uns der Zwang des Selbftverdienens häßlich, faft lächerlich er-
fcheint.

Andrerfeits weiß jeder fchaffende Künftler, ob er fich nun durch das Medium der
Form, der Farbe, des Wortes oder des Tons auszudrücken gewillt fei, daß an ihn zu
irgendeiner Zeit feines Werdeganges die Forderung herantritt, mit den verbrauchten
Ausdrucksformen zu brechen und fich die eigenen, ihm entfprechenden Formen zu

1 Die unter dem obigen Pfeudonym bekannte Mitarbeiterin der „Preußifchen Jahrbücher“
Anna Gräfin von Sdilieffen, wird demnächft auch mit einigen wertvollen Beiträgen zur ita-
lienifdien Kunftgefchidite in den Monatsheften für Kunftwiffenfchaft zu Wort kommen.

Änm. des Herausgebers.

Der Cicerone, VII. Jahrg., Heft 5/6

9

101
 
Annotationen