Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 7.1915
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https://doi.org/10.11588/diglit.26376#0131
DOI Heft:
Heft 5/6
DOI Artikel:West, Robert: Bernhard Hoetger und die Stilwandlung des 20. Jahrhunderts
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BERNHARD HOETGER UND DIE STILWANDLUNG DES 20. JAHRHUNDERTS
Abb. 7. BERNHARD HOETGER, Sterbende Mutter
ein Zeichen beginnenden Verfalles ift. Die Griechen bemalten ihren fchönften Marmor.
Bernhard Hoetger hat hier einem Stein Farbe gegeben, der an fich nicht die Wir-
kungsmöglichkeiten des Marmors befitjt. Der fränkifche Mufchelkalkftein hat eine
poröfe Oberfläche, welche Feinheiten in der Modellierung, wie fie dem Marmor oder
der Bronze angemeffen find, von vornherein ausfchloß. Die Farbe vertritt darum hier
in völlig legitimer Weife diefe letzte Modellierung der Oberfläche. Ganz abgefehen
von diefer technifdien Notwendigkeit der Bemalung muß man aber auch die ungeheuren
Nachteile berückfichtigen, welche fich den im Freien auf geteilten farblofen Werken der
Plaftik in unferer dunftiggrauen Atmofphäre entgegenftellen. Plaftik wirkt durch Licht
und Schatten, wo aber faft nie ein kräftiges Sonnenlicht kräftige Schatten herausholt,
tritt die Farbe gewiffermaßen ergänzend und die Form akzentuierend hinzu. Auch die
ägyptifche Kunft, diefe feinfte Knofpe einer hohen Kultur, hat trotj dem viel reicheren
Sonnenlicht der Nilebenen die Farbe immer und mit grandiofefter Wirkung gerade in
der Blütezeit verwandt.
Am wenigften Farbe ift an dem fchönften Werk ftatuarifcher Plaftik des Platanen-
hains angebracht, vielleicht weil hier die Monumentalität der Form fie am leichteren
entbehren ließ, vielleicht auch, weil der ernften Tragik diefes Vorwurfs der graue Ton
des Steins am eheften zu entfprechen fchien wie bei einem Grabdenkmal. Um etwas
Ähnliches handelt es fich hier, denn wieder hat ein Künftler perfönliches Erleben zum
Weltenfdiickfal umgedichtet. Die Gruppe der fterbenden Mutter drückt geradezu
erfchütternd das ewige Gefetj des Menfchendafeins vom Werden und Vergehen aus.
Eine junge Frau finkt fterbend zurück, während fie das Kind auf ihrem Schoß gerade
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Abb. 7. BERNHARD HOETGER, Sterbende Mutter
ein Zeichen beginnenden Verfalles ift. Die Griechen bemalten ihren fchönften Marmor.
Bernhard Hoetger hat hier einem Stein Farbe gegeben, der an fich nicht die Wir-
kungsmöglichkeiten des Marmors befitjt. Der fränkifche Mufchelkalkftein hat eine
poröfe Oberfläche, welche Feinheiten in der Modellierung, wie fie dem Marmor oder
der Bronze angemeffen find, von vornherein ausfchloß. Die Farbe vertritt darum hier
in völlig legitimer Weife diefe letzte Modellierung der Oberfläche. Ganz abgefehen
von diefer technifdien Notwendigkeit der Bemalung muß man aber auch die ungeheuren
Nachteile berückfichtigen, welche fich den im Freien auf geteilten farblofen Werken der
Plaftik in unferer dunftiggrauen Atmofphäre entgegenftellen. Plaftik wirkt durch Licht
und Schatten, wo aber faft nie ein kräftiges Sonnenlicht kräftige Schatten herausholt,
tritt die Farbe gewiffermaßen ergänzend und die Form akzentuierend hinzu. Auch die
ägyptifche Kunft, diefe feinfte Knofpe einer hohen Kultur, hat trotj dem viel reicheren
Sonnenlicht der Nilebenen die Farbe immer und mit grandiofefter Wirkung gerade in
der Blütezeit verwandt.
Am wenigften Farbe ift an dem fchönften Werk ftatuarifcher Plaftik des Platanen-
hains angebracht, vielleicht weil hier die Monumentalität der Form fie am leichteren
entbehren ließ, vielleicht auch, weil der ernften Tragik diefes Vorwurfs der graue Ton
des Steins am eheften zu entfprechen fchien wie bei einem Grabdenkmal. Um etwas
Ähnliches handelt es fich hier, denn wieder hat ein Künftler perfönliches Erleben zum
Weltenfdiickfal umgedichtet. Die Gruppe der fterbenden Mutter drückt geradezu
erfchütternd das ewige Gefetj des Menfchendafeins vom Werden und Vergehen aus.
Eine junge Frau finkt fterbend zurück, während fie das Kind auf ihrem Schoß gerade
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