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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 7.1915

DOI Heft:
Heft 5/6
DOI Artikel:
West, Robert: Bernhard Hoetger und die Stilwandlung des 20. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.26376#0138

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BERNHARD HOETGER UND DIE STILWANDLUNG DES 20. JAHRHUNDERTS

diefer Körper, jede Bewegung ift fchwanger von diefer einen Empfindung des Auf-
hebens zum Licht. Halb gefchloffene Augen, erblindet in langer Erdennacht heben
fich zum Licht empor, halb geöffnete Lippen atmen neue Lebensluft. Dabei hat der
Künftler fehr fein zwifchen den beiden Stadien der Auferftehung, welche dem völligen
Losgebundenfein vorangehen, unterfchieden. Die fixenden Geftalten haben nur eben
den Weckruf vernommen, find nur eben vom Licht berührt, kauern noch am Boden,
unfähig fich zu erheben, denn erft in diefem Augenblick wird der Mantel der Nacht von
ihnen genommen. Auch hier ift der ornamentale geftaltete Hintergrund zu fymbolifcher
Mitwirkung in die Kompofition einbezogen worden. Zwei Vögel, altchriftliche Symbole,
ziehen über den Köpfen der hockenden Geftalten den Erdenmantel empor, jenen
Mantel, der fich im „Schlaf“ bleiern, tief und fchwer über die Ruhenden fenkte. Die
ftehenden Figuren find dagegen von der Materie befreit, ihre Körperlichkeit ift ihnen
felbft nicht mehr bewußt, wie Traumwandler drängen fie empor zum Licht. Noch
haften zwar ihre Fußfohlen an der Erde, aber nur mit diefer äußerften Grenze ihres
Seins gehören fie noch dem Diesfeits an. Kopf, Schultern, Bruft und Arme heben fich
wie von unbezwingbarem Drang emporgetrieben. Die Auferftandenen grüßen das
Licht. Diefer letzte darftellbare Moment des Auferftehungswunders ift es, den Bernhard
Hoetger mit ficherem Künftlerinftinkt gewählt hat, und darin unterfcheidet er fich als
ein bewußter Neugeftalter von allen Vorgängern, die immer an dem Verfuch den fchon
ganz im Jenfeits gedachten Moment, den Emporgefahrenen, nicht den Auferftehenden,
darzuftellen, gefcheitert find.

Die Gefchloffenheit der Kompofition, die nirgends mit folcher Strenge durchgeführt
ift wie auf diefem Relief, trägt ihr Teil dazu bei, den überquellenden Reichtum innerer
Leidenfchaft noch ftärker fühlbar zu machen. In diefem Werk begreifen wir die
Stilwandlung unferes 20. Jahrhunderts, hier empfinden wir ahnend die erfte Äuße-
rung eines neuen Weltgefühles, das künftlerifch zur ftrengften Form zurückftrebt, die
vom ftärkften feelifchen Leben erfüllt fein foll. Bernhard Hoetger hat einen Vor-
läufer in der Literatur des 19. Jahrhunderts gehabt, Friedrich Hebbel, in deffen Lebens-
fchickfal fich vielleicht manche Züge finden laffen, die dem Hoetgers verwandt find.
Diefer Hebbel ift erft in unferen Tagen zu rechter Anerkennung gelangt. Das mag
Zufall fein, immerhin gibt die Tatfache einen Fingerzeig auf die Stilentwicklung unferer
Epoche: Seelifche Vertiefung durch bedingungslofe Unterwerfung unter das Gefelj der
Form, Leidenfchaft des Empfindens und eiferne Zucht des Handelns. Es ift ein neues
Werden und Wollen unter uns. Das Jahr 1914 wird in den Annalen der deutfchen
Kultur ftehen als der Beginn der Auferftehung von tiefem Schlaf. Die Zukunft hat
begonnen. Die Vergangenheit begräbt ihre Toten. Aus einem Meer von Blut hebt
fich Deutfchland hervor als eine ftille Infel neuer Geifteskultur. Unverfiegbar quillt der
Brunnen deutfcher Geifteskraft. Ift es vermeffen zu fagen, daß die erften Grenzfteine
der neuen künftlerifchen Kultur unferes Vaterlandes fchon im Jahre 1914 gefegt worden
find, noch ehe der Krieg begann, in dem ftillen Darmftädter Hain, deffen Bäume um
die Winterswende ein eifiger Oftwind entblättert hat?

(Anmerkung der Redaktion: Über den Darmftädter Platanenhain und feinen
Schöpfer Bernhard Hoetger wird demnächft bei Paul Caffirer-Berlin eine reich illuftrierte
Studie des Privatdozenten E. Hildebrandt-Stuttgart erfdieinen, der wir, dank dem Entgegen-
kommen des Verlages, mehrere Abbildungen diefes Heftes entnehmen konnten.)

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