ZUM PROBLEM DER ANTIKE UND DES BAROCKS IM 17. JAHRHUNDERT
Äbb. 2. Teil aus einem Sarkophag mit der Dar-
ftellung des Todes des Meleager
Rom, Villa Albani. — Bis ca. 1645 im Pal. della Valle
faltigeren, fprudelnderen Dichtern. Ovid,
Catull, Tibull und Horaz entzückten die neue
Generation. Taffo, Arioft, Guarini eiferten
ihnen nach. Man hatte genug von der un-
beweglichen, ftatuarifchen Ruhe, von dem
in fich abgefchloffenen, kühl Objektiven.
Man verlangte nach Einzelnem, Indi-
viduellem, nach Bewegungsreichtum. Und
man entdeckte, daß auch die Antike
diefen barocken Geift enthalten hat, daß
auch fie Fülle, Reichtum, Bewegung dar-
geftellt hat.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war
eine der fchönften fpätrömifchen Skulpturen
aufgefunden worden: der Apollo von Bel-
vedere, deffen freiere Stellung, ausladendere
Geften dem Zeitempfinden vortrefflich entfprachen. In den erften beiden Jahrzehnten
des 16. Jahrhunderts kamen eine Reihe weiterer Spätantiken zum Vorfchein: Laokoon,
Meleager, Hermes und der fterbende Gallier; 1540 der farnefifche Stier und Herkules;
1554 die bronzene Chimäre; 1560 die Pompejusftatue; 1565 der etruskifche Redner;
1583 die Niobiden. Die Pathetik, die allen diefen Skulpturen gemeinfam ift, gab dem
nach Ausdruck ringenden Gefühlsfchwung der Künftler des 16. Jahrhunderts Recht. Die
Auffaffung der Antike verwandelte fich. Man fah in ihr nicht mehr die Idealität
ftatuarifcher Ruhe, kühler Logik, mathematifcher Einfachheit, fondern nahm diefe
Tgpifierungen von Unruhe, Ergriffenheit, Schmerz und Luft als das Höchfte, das die
Antike der Nachwelt überliefert habe. Das Streben der Zeit nach verwickelter Mannig-
faltigkeit, nach Steigerung in jeder Beziehung wurde durch diefe dramatifch bewegten,
antiken Gruppen, durch die altrömifchen Koloffalbüften fanktioniert. Es entfprach dem
Zeitempfinden, daß die Carraccis, Albano, Cortona, Guarini, Marino ihre Motive dem
Ovid entnahmen, daß in der Philofophie Plato von Plotin abgelöft wurde, daß inner-
halb diefer ganzen Bewegung grauenerregende, tumultarifche Motive wie der bethlehemi-
tifche Kindermord, Peftdarftellungen und der Raub der Sabinerinnen in Mode kamen,
die teilweife auch wiederum nach fpätantiken Gruppen und Reliefdarftellungen, wie
dem Raub der Helena, dem Raub der Töchter des Leukippos orientiert wurden.
Aber fchon fetjte eine Gegenbewegung ein, für welche die Auffindung des Freskos
der Aldobrandinifchen Hochzeit um 1600 als erftes Vorzeichen gelten kann, wenn auch
die eigentliche Reaktion gegen das Barock erft viel fpäter wirkfam wurde. Diefes
Wandgemälde enthält keine Erregung, keine reichen Bewegungen, keine Steigerung;
es [teilt in ruhiger Zuftändlichkeit eine liebliche Idylle dar. Pouffin hat diefe zarte
Darftellung geliebt und kopiert. Er hat diefe feine Stimmungskunft fortgefeßt und
andererfeits an Mafaccio, Mantegna und Raffael, die Ahnen des Klaffizismus wieder
angeknüpft. Dodi er hat nicht kurzfichtig wie Mantegna die Antike aus allzu großer
Nähe ftudiert; er hat nicht nur intellektuell die Alten erfaßt, fondern fein künftlerifches
Gefühl hat fich der antiken Welt ganz gefchenkt, fein Geift hat fie ganz durchdrungen;
und dann hat er, ihnen verwandt, eine Welt gefchaffen, in der Gefühl und Geift fich
die Wage halten und deren höchfter Wert die Einheitlichkeit ift. Wie Mantegna hat
er Antiken nachgezeichnet; aber nicht kleinlich und im Beftreben nach Genauigkeit,
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Äbb. 2. Teil aus einem Sarkophag mit der Dar-
ftellung des Todes des Meleager
Rom, Villa Albani. — Bis ca. 1645 im Pal. della Valle
faltigeren, fprudelnderen Dichtern. Ovid,
Catull, Tibull und Horaz entzückten die neue
Generation. Taffo, Arioft, Guarini eiferten
ihnen nach. Man hatte genug von der un-
beweglichen, ftatuarifchen Ruhe, von dem
in fich abgefchloffenen, kühl Objektiven.
Man verlangte nach Einzelnem, Indi-
viduellem, nach Bewegungsreichtum. Und
man entdeckte, daß auch die Antike
diefen barocken Geift enthalten hat, daß
auch fie Fülle, Reichtum, Bewegung dar-
geftellt hat.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war
eine der fchönften fpätrömifchen Skulpturen
aufgefunden worden: der Apollo von Bel-
vedere, deffen freiere Stellung, ausladendere
Geften dem Zeitempfinden vortrefflich entfprachen. In den erften beiden Jahrzehnten
des 16. Jahrhunderts kamen eine Reihe weiterer Spätantiken zum Vorfchein: Laokoon,
Meleager, Hermes und der fterbende Gallier; 1540 der farnefifche Stier und Herkules;
1554 die bronzene Chimäre; 1560 die Pompejusftatue; 1565 der etruskifche Redner;
1583 die Niobiden. Die Pathetik, die allen diefen Skulpturen gemeinfam ift, gab dem
nach Ausdruck ringenden Gefühlsfchwung der Künftler des 16. Jahrhunderts Recht. Die
Auffaffung der Antike verwandelte fich. Man fah in ihr nicht mehr die Idealität
ftatuarifcher Ruhe, kühler Logik, mathematifcher Einfachheit, fondern nahm diefe
Tgpifierungen von Unruhe, Ergriffenheit, Schmerz und Luft als das Höchfte, das die
Antike der Nachwelt überliefert habe. Das Streben der Zeit nach verwickelter Mannig-
faltigkeit, nach Steigerung in jeder Beziehung wurde durch diefe dramatifch bewegten,
antiken Gruppen, durch die altrömifchen Koloffalbüften fanktioniert. Es entfprach dem
Zeitempfinden, daß die Carraccis, Albano, Cortona, Guarini, Marino ihre Motive dem
Ovid entnahmen, daß in der Philofophie Plato von Plotin abgelöft wurde, daß inner-
halb diefer ganzen Bewegung grauenerregende, tumultarifche Motive wie der bethlehemi-
tifche Kindermord, Peftdarftellungen und der Raub der Sabinerinnen in Mode kamen,
die teilweife auch wiederum nach fpätantiken Gruppen und Reliefdarftellungen, wie
dem Raub der Helena, dem Raub der Töchter des Leukippos orientiert wurden.
Aber fchon fetjte eine Gegenbewegung ein, für welche die Auffindung des Freskos
der Aldobrandinifchen Hochzeit um 1600 als erftes Vorzeichen gelten kann, wenn auch
die eigentliche Reaktion gegen das Barock erft viel fpäter wirkfam wurde. Diefes
Wandgemälde enthält keine Erregung, keine reichen Bewegungen, keine Steigerung;
es [teilt in ruhiger Zuftändlichkeit eine liebliche Idylle dar. Pouffin hat diefe zarte
Darftellung geliebt und kopiert. Er hat diefe feine Stimmungskunft fortgefeßt und
andererfeits an Mafaccio, Mantegna und Raffael, die Ahnen des Klaffizismus wieder
angeknüpft. Dodi er hat nicht kurzfichtig wie Mantegna die Antike aus allzu großer
Nähe ftudiert; er hat nicht nur intellektuell die Alten erfaßt, fondern fein künftlerifches
Gefühl hat fich der antiken Welt ganz gefchenkt, fein Geift hat fie ganz durchdrungen;
und dann hat er, ihnen verwandt, eine Welt gefchaffen, in der Gefühl und Geift fich
die Wage halten und deren höchfter Wert die Einheitlichkeit ift. Wie Mantegna hat
er Antiken nachgezeichnet; aber nicht kleinlich und im Beftreben nach Genauigkeit,
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