Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

DOI issue:
Heft 1
DOI article:
Meier-Graefe, Julius: Französische Zeichnungen
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0035

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Honore Daumier Don Quichote und Sancho Pansa

Sammlung Paul Gallimard, Paris

FRANZÖSISCHE ZEICHNUNGEN

VON J. MEIER-GRAEFE

Früher hielt man nur die Primitiven und die Maler der Renaissance für Zeichner, weil
sie den geschlossenen Umriß hatten, und da sich im 1 9. Jahrhundert die Klassizisten
solcher Linien bedienten, wurde das als Merkmal der Tradition genommen und je nach
dem Gusto des Betrachters für oder gegen das Epigonentum ausgespielt. In allen offi-
ziellen Kreisen hielt man den glatten Stricli für die einzige des Namens würdige Zeicli-
nung. Nur er gewährte das, was man Form nannte, und ohne Form gab es keine
Schönheit. Mit dieser Einstellung wurde die Kunstgeschichte ungemein vereinfacht
und nicht nur den Neuerern der Gegenwart, sondern auch ruhmreichen Generationen
der Vergangenheit der Zugang versperrt, unter anderen keinem Geringeren als Rem-
brandt, der noch vor hundert Jahren seiner Zeichnung wegen für nicht stubenrein
galt. Corot hat auf seine Art die Mängel dieser Anschauung erwiesen. Als er in der
Jugend ein paar Menschen auf der Straße zeichnen wollte und nach der Methode
seines akademischen Lehrers mit den Köpfen anfing, geschah es, daß die Leute, bevor
er die Nasen fertig gezirkelt hatte, weitergingen, und so hätte er, erzählt er, wenn er
bei dieser Methode geblieben wäre, sein Skizzenbuch mit Stücken von Gesiclitern ge-
füllt. Da es ihm vorteilhafter dünkte, ganze Menschen nacli Hause zu bringen, verzichtete
er auf die Kalligraphie und gab sich daran, die gegebene Situation mit losen Strichen
zusammenzufassen. Den Ausputz der Einzelheit ließ er für nachher. — Damit wird die
Unfähigkeit der überlieferten Zeichnung vor dem Leben, das nicht stillhält, dargetan.
Man konnte draußen ein Blatt, einen Ast genau zirkeln, schwerer schon einen Baum,
aber nie einen Wald, noch die Luft und das Licht zwischen den Bäumen. Sehr ein-
fach und klar, fast zu einfach, denn es ließe sich folgern, der wahre Begriff der Zeich-
nung sei erst nach einer stofflichen Erweiterung des Darstellungsgebietes entstanden,
ein Geschenk des Realismus oder einer anderen Richtung, während er in Wirklichkeit
so alt ist wie die Malerei. Nicht zwischen einem Klassizisten und einem Landschafter ist
zu unterscheiden, sondern zwischen einer Allegorie Ingres’und einer Allegorie Delacroix’.
Man könnte ebensogut Tintoretto und einen gleiclizeitigen Epigonen Raffaels nehmen.
Waldmar George, begabter Kritiker der jüngeren Pariser Generation, hat soeben ein
mit zahlreichen Dokumenten illustriertesBuch »Le dessin francais de David ä Cezanne«

o

9
 
Annotationen