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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

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Heft 3
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Giedion, Sigfried: Le Corbusier und das neue Bauen
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https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0102

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ist man erstaunt über die Sicherheit der Problemstellung, die Konsequenz der Ent-
wicklung. Wenn man bedenkt, daß in lcaum mehr als einem Jahrfünft die Siedlung
Pessac, die Kampagne um den Völkerbund, der Centrosoyus (Moskau), und — um nur
die wichtigsten zu nennen — die Häuser La Roche-Jeanneret (Auteuil), Cook (Bou-
logne s/Seine), De Monzie (Garches), Ville D’Avray fallen und dazu noch die literarische
und malerische Arbeit Corbusiers rechnet, so begreift man kaum, wie die Kraft eines
einzelnen dazu ausreicht. Allerdings darf man nicht vergessen, daß Corbusier 35 Jahre
alt wurde, bis er zum kontinuierlichen Bauen kam (Haus in Vaucresson). Das Werk
ist langsam gereift. Das Leben sorgte dafür, daß er es von unten her kennen lernte.
Dazu kam, daß er zur rechten Zeit an den einzigen gelangte, der ihm wirklich ein
Lehrer sein konnte: Auguste Perret. Allerdings darf man auch die zurückhaltend
stumme Mitarbeit Pierre Jeannerets nicht vergessen. Die Arbeiten sind, bei aller Prä-
ponderanz Corbusiers, gemeinsam entstanden, so daß die beiden Namen ein Kollek-
tivum bilden.

Man hat, durchaus mit Berechtigung, Corbusier vorgeworfen, daß er im Grunde nur
für reiche Leute baue. Sieht man die neue Veröffentlichung daraufhin an, so wird
man beobachten, daß zu Beginn Siedlungen, Wohnungen für das Existenzminimum
stehen. Zu einer Zeit, in der man in Deutschland durchaus nocli unsiclier suchte, ent-
warf Le Corbusier als Siedlungseinheit ein einfaches Skelett aus Eisenbeton, das nur
Decken nnd Treppen trug (die sog. Häuser Domino 1914 und 15), das wirklich im
Kern die ganze Entwicklung Corbusiers enthielt. Diese einfache Zeichnung ist viel-
leicht der genialste Griff, den Corbusier getan hat. Immer wieder folgen Siedlungen
für Arbeiter, für Handwerker, für Künstler. Nichts ist davon zur Ausführung ge-
kommen, außer nach vielen Jahren (1925/26) Pessac. Der Wiederaufbau der zerstörten
Gebiete vollzog siclr bekanntlich außerhalb der architektonischen Entwicklung. Die
französischen Behörden, die auf dem Gebiete des Ingenieurbaus (Grands travaux) heute
noch die kühnsten Lösungen verwirklichen, stehen vorläufig dem Gebiet des Wohn-
baus fremd gegenüber. Sogar das Loi Loucheur, dessen ausgezeichnete Problemstellung
(Wohnungen für 35 000 franz. Francs) man begeistert begrüßt hatte, droht leider
immer mehr als Unternehmertrick zu enden.

Mit den Behörden ist also vorläufig nicht zu rechnen, aber es gibt immerhin in Frank-
reich reiche Leute — vor allem uuter den dort ansässigen Amerikanern und Schwei-
zern — die Instinkt genug besitzen, sich Häuser errichten zu lassen, die unserer Zeit
entsprechen. So ist es zu verstehen, daß Corbusier seine Villen baute, fast jedes Haus
stellt das Problem weiter und unabhängiger. Wir sind an anderer Stelle darauf ein-
gegangen. Hier ist es nicht möglich.

*

KONSTRUKTION ALS GRUNDLAGE
»Architecture signifie pour moi, agir par construction spirituelle«, sagt Le Corbusier in
der Einleitung des Werkes, »Architektur bedeutet für mich geistige Auswertung der
Konstruktion«. Wie vieles der französischen Formulierung, scheint uns auch dieser für
Corbusier grundlegende Satz nicht direkt übersetzbar. (Leider verfügt die Übersetzung,
aber auch manchmal, wo es möglich gewesen wäre, nicht über die nötige Klarheit.)
Corbusier geht nicht von einer Verbesserung oder »Veredelung« der Form aus. Man
glaubte naclr 1900 durch ein Abkratzen der Ornamente und eine Verbesserung des
durch den Mißbrauch der Maschine elend herabgekommenen Handwerks aucli die
Gesundung der Architektur zu erreichen. Dieses Kompromiß mit der handwerklichen
Kultur schuf: das Kunstgewerbe, Art decorative. Es war eine gesunde Zwischenstufe.
Der Werkbund hatte eine reinigende Funktion. Allerdings führte der Nachdruck, den

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