Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

DOI Heft:
Heft 11
DOI Artikel:
Rosenthal, Erwin: Wandlungen in der italienischen Malerei um 1500: Eigenentwicklung und deutsches Element
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0335

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
lier begründet, jeder inneren Notwendigkeit zu
entbehren. Der Weg, tiefere Bezüge zu finden,
hätte über die Geistesgeschichte geführt. Er war
bereits stark vorgezeigt. Man lese bei Dvoräk
(Geschichte der italienischen Kunst im Zeit-
alter der Renaissance, München 1929): »...Er
(Tintoretto) war auch darin niclit ganz ohne
Yorgänger, denn schon ein halbes Jahrhundert
früher hatten die Deutschen, vor allem Dürer,
einen ähnlichen Weg eingeschlagen .. . Diese
Übereinstimmung zwischen dem Deulschen und
dem Yenezianer ist sicher kein Zufall, sondern
beruht auf der Yerwandtschaft der geistigen
Situationen, wie sie in Deutschland am Vor-
abend der Reformation und in Italien am An-
fang der Gegenreformation bestanden...«

Ilier ist ein geistesgeschichtiicher Unlerbau an-
gedeutet, den es bis ins kleinste auszugestalten
gilt! 1 2

Hetzer war von wertvollen Untersuchungen der
Bildslruktur Tizians 3 ausgegangen, setzt aber
seine Ergebnisse in diesem neuen Buche einer
zu slarken Belastungsprobe aus. Wo bildkon-
struktiv Verwandtes nachweisbar ist, soll auch
gleich eine liistorische Beziehung hergestellt
wcrden. In dieser unmittelbaren Anwendung
einer systematischen Bildbetrachtung auf den Ablauf des allgemeinen Geschehens, liegt meines Erachtens
der methodische Fehlgriff, welcher den kritischen Leser trotz einzelner Schönheiten und spannender
Eigenheiten des Buches beunruhigt und ihm das Gefülil sicheren Geführtseins raubt. Letzterhand krankt
das Buch Hetzers daran, daß die Antinomien nicht über das Gegeneinanderausspielen der nationalen Ele-
mente hinausgehcn, daß er nicht bis zu einer Antithese von kategoraler Bedeutung vordringt. Erst unter
dem Aspekt eines Begriffspaares, wie es das Klassische und das Romantische, das Apollinische und das
Dionysische, das Rationale und das Irrationale darstellen, läßt sicli das von Hetzer aufgegriffene Problem
regulieren. Unter Zugrundelegung der Erkenntnis, daß sowohl die deutsche wie die italienisclie Kunst iin
Ablauf der Jahrhunderte nur unter dem Spannungsverhältnis von Endlichkeitserfassung und Unendlich-
keitsstreben ihren Ausdruck, ihren Stil schafft, läßt sich erkennen, daß die neuere italienische Kunst zu-
nächst die rationalen Elemente stärker ausbaut als die irrationalen, welch letztere in dem Doppelstrom
der deutschen Entwicklung die Oberhand gewinnen. Aber es wäre ebenso verfehlt, in der nordischen und
auch speziell deutschen Gotik das vollkommen neue Verhältnis zum Organischen und vernunftmäßig
Faßbaren zu verkennen, wic die irrationalen Kräfte von i3oo—i5oo in Italien zu übersehen. Das Über-
handnehmen dynamischer Ausdruckskräfte in der italienischen Malerei des beginnenden 16. Jahrhunderts
im Gegensatz zu der — keineswegs allein herrschenden, aber bevorzugten — Statik des Quattrocento be-
deutet das Einsetzen und Wiederaufkommen irralionaler Kräfte in derKunst. Richtiger: Das Spannungs-
verhältnis von Rationalem und Irrationalem verändert sich zugunsten des letzteren. Nun scheint es, daß
die Darstellungsmittel der abendländischen Kunst notwendigerweise sicli einander annähern müssen, wo
sie sich in einer solchen Strömung von kategoraler Bedeutung befinden. Im Sinne also einer das Irra-
lionale primär betonenden Stilgesetzlichkeit treffen nördliche und südliche Ausdrucksformen aufein-
ander. Wo es wirklieli möglich war, daß deutsche Graphik auf die große bildende Kunst des Südens Ein-
fluß gewann, konnte es nur dadurch geschehen, daß man aus den kleinen Blättcrn herauslas, was man
eben selbst in diesem Augenblick zu hören wünschte. Wir wissen von dem erstaunlichen Prozeß, daß
byzantinische Kleinkunst abendländische Großplastik des Mittelalters zu beeinflussen vermochte. Wich-
tiger als diese Tatsache aber bleibt es, sich darauf zu besinnen, wie dieses Phänomen zu erklären ist. Eben
dadurch, daß, wie 11ns die Geistesgeschichte lehrt, im Abendland allenthalben das Bedürfnis nach neuer
Naturerfassung durcli tausend Quellen gespeist wurde, und daß man eben nach dem griff, was einem vor-

1 Hierzu Antal: »Die vorangegangene spiritualistische Mystik hat für die Reformation und Gegenreformation
gleichermaßen die Waffen geschmiedet, und auch die innere Verwandtschaft mit dem Norden ist in beiden Rich-
tungen gleicherweise vorhanden.«

2 Wir setzen wesentliche Hoffnungen auf das im Erscheinen begriffene Werk, das aus Wilhelm Pinders Schule
hervorgeht: Nikolaus Peusner, Rarockmalerei in den romanischen Ländern (Handbuch der Kunstwissenschaft).

3 Über Tizians Gesetzlichkeit. Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1928.

305
 
Annotationen