Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers (22.1930)

derselbe wie der der Londoner Büßerin. Wir möchten die Halbfigur in die neunziger
Jahre setzen; damals war Francescos Tätigkeit zwischen Siena und Neapel geteilt. Ist
es zu kühn, zu vermuten, daß Francesco durch Neapler Eindrücke mit bestimmt wurde,
den Gestalten der Klage und Askese diesen sensitiven und gar nicht herben Ausdruck
zu geben? In Neapel ist Elend und Schönheit noch heute seltsam gemischt, Armut und
Adel finden sich oft gepaart, die primitive Seele ist besonders zart. Aus Florenz kann
Francesco diese besondere Art nicht bezogen haben; da war man damals entweder
niedlich wie Benedetto oder derb wie Giovanni della Robbia und lauschte Savonarolas
Bußreden im Dom. Urbino hat den unglaublich vielseitigen Künstler Francesco zur
letzten Reife gebracht, Kollegen und Humanisten haben ihn künstlerisch und seelisch
über sich selbst erhoben, viele Reisen brachten viele verschiedene Eindrücke und als der
in Siena so schmerzlich Vermißte und oft Zurückerbetene endlich wieder in die Heimat
zm-ückkehrte, beherrschte er eine Kunst, in der die Zartheit, die Siena immer verlangt
hatte, sich mit Monumentalität verband, Festliches im Glanz der Kerzen des Hochaltars
und Stolz in der Askese einer sündige Liebe büßenden, aber unerschütterten Frau 1.

1 Die Provenienznotizen, die Maclagen mir freundlichst zur Verfügung stellte, führen nur bis
zur Erwerbung auf einer Chiistie-Auktion in London; der frühere Besitzer war Mr. Howell Wills
in London. Bode hat das Werk in seiner großen Geschichte der toskanischen Plastik nicht er-
wähnt. —- Die Büste ist 55,5 cm hoch.

Abb. 4
Kraricesco diGiorgio
Engel. Bronze

Berlin,

Kaiser-Friedrich-

Museum

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