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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,3.1917

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Heft 16 (2. Maiheft 1917)
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Frankenberg, ... von: Zur Entwicklungsfrage Europas
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https://doi.org/10.11588/diglit.14297#0191

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großen Zahl anderer Staaten verbindet. Philosophisch gesprochen: Es ist
unzulässig, einen SLaat als Selbstzweck hinzustellen. Politisch aus-
gedrückt: Es ist Kirchturmspolitik im großen.

Zunächst scheint es, als wenn Europa, als wirtschaftliche Einheit be-
trachtet, durch den Krieg in gleichem Maße gelitten habe, wie die Staaten,
die dieses Ganze zusammensetzen; ja, die Schäden, die den „Staat"
Europa trafen, mögen als besonders schwer gelten, weil die Vorteile ein-
zelner Kriegführenden und Neutralen vom europäischen Standpunkte aus
als durch entsprechenden Nachteil anderer erkauft und darum nichtig er«
scheinen. Was Europa widerfuhr, war ein Bürgerkrieg.

Soweit kann von einem Nutzen des Krieges auch für Europa keine Rede
sein. Das war aber auch biologisch kaum zu erwarten. Ein Eingriff der
Amwelt wirkt auf ein Lebewesen fast nie unmittelbar günstig, ge-
wöhnlich besteht der Nutzen, wie bei der Schutzimpfung, in der zweck-
mäßigen Reaktion des Körpers selbst. Wir wollen also unsre Aufmerk-
samkeit auf dieAnpassung richten, mit welcher die europäischen Staaten-
organismen voraussichtlich auf den schädigenden Eingriff des Krieges
reagieren werden. Wenn zwei Arten von Lebewesen einander bekämpfen,
werden sie schon dadurch in gewissem Grade voneinander abhängig, und
ihr Verhalten gegeneinander strebt in der Regel, sich derart zu verändern,
daß sie beide aus ihm Nutzen ziehen. Während zum Beispiel die Vorfahren
der Bienen sich darauf beschränkten, den von den Pflanzen hervorgebrachten
Blütenstaub ohne Nutzen für diese zu rauben, hat sich im Laufe der Zeit
das Verhältnis zwischen Bienen und Blumen so verschoben, daß jetzt die
Bestäubung der Blüten und die Ernährung der Bienen dadurch gewähr-
leistet wird: die beiden Gruppen von Lebewesen haben sich aneinander
angepaßt. Ein Lhnliches Streben nach Ausgleich und Reibungslosigkeit
finden wir in der belebten Natur stets; es ist eine Folge der allen Organis-
men innewohnenden lebenerhaltenden Tendenzen.

Wenn also, wie wir glauben, Europa trotz allem ein lebenskräftiger
Organismus ist, so steht auch in diesem Falle eine Verfeinerung des inneren
Baues zu erwarten. Gerade weil die inneren Reibungen in diesem Kriege
einen so sichtbaren und fürchterlichen Ausdruck gefunden haben, wird jetzt
eine Tendenz zu ihrer Ausschaltung hervortreten. Der Krieg ist kein er-
haltungsgemäßes Mittel zwischenstaatlichen Verkehrs, er wird infolgedessen
reibungsloseren Mitteln Platz machen.

Ein neues Beispiel wird die Sachlage noch schärfer beleuchten.

Die engste Lebensgemeinschaft ist wohl die, in der die Organe eines
vielzelligen Tieres zusammenleben. Daß auch in derartig festen Gefügen,
wenigstens während ihrer Entwicklung, ein Kampf der Teile statt-
findet, hat der geistvolle Forscher Roux wahrscheinlich zu machen versucht.
Dieser Kampf aber endet nicht damit, daß ein Organ sich zum absoluten
tzerrn der anderen aufwirft (ein Organismus, in dem das geschähe, müßte
ja notwendigerweise zugrunde gehen), sondern damit, daß sich ein harmoni-
sches Zusammenarbeiten der Teile durchsetzt, wobei jedes Glied den ihm
angewiesenen Platz völlig ausfüllt. Von nun an wird jede Lebensäuße-
rung der Teile ausschließlich vom Streben nach den Zwecken des Ganzen
beherrscht und ist nur im tzinblick auf diese Zwecke verständlich.

Wer mehr technisch als biologisch zu denken gewöhnt ist, dem wird viel»
leicht ein anderes Bild besser zusagen, nämlich das einer komplizierten
Maschine, bei der ja auch die einzelnen Teile harmonisch zusammenwirken

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