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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,3.1917

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1917)
DOI Artikel:
Müller, Johannes: Intellektualismus
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14297#0298

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lösenden, gelrngenden, schöpferischen Lebens, dcrs unser objektives Wesen
zu echten Außerungen und ursprünglicher Entfaltung bringt.

Anter „Wirklichkeit^ fasse ich die ganze Fülle der Verhältnisse, Er»
scheinungen und Vorgange unsers Daseins, Menschen und Dinge, Lebens-
ansprüche und Aufgaben, Ratsel und Probleme. In allem und jedem
tritt das Geheimnis und Wunder des Daseins an uns heran und will
durch Leben gelöst werden, indem es uns selbst durch das Erlebnis dazu
befähigt und befruchtet. Alle herangebrachten Vorstellungen und Vor-
urteile, mit denen wir das uns ergreifende Wirkliche fassen, verdecken
uns sein Geheimnis, bringen uns um das Staunen, die Ehrfurcht, die
tiefe seelische Erregung, ohne die es keine Befruchtung gibt. Wie soll sich
uns dann sein Wunder entschleiern? Wir begreifen es dann nicht als das
Veue, Nochniedagewesene, Einzigartige, Eigenartige, was ja alles ist,
was uns nahe tritt, sondern als etwas Bekanntes, Gewohntes und reagieren
dann darauf gewöhnlich, herkömmlich. Wie kann es uns dann etwas
Beues offenbaren? Wie können wir dann ursprünglich leben? Wie soll
dann daraus etwas Schöpferisches hervorgehen?

Zur Anbefangenheit gehört weiter Anmittelbarkeit des empfangenden
und keimenden Lebens. Das reflektierende Betasten und erkenntnislüsterne
Analysieren und Ausbeuten unsrer Eindrücke, das ihnen gar keine Zeit
läßt, in unserm seelischen Empfinden zu gären, ist ein zur Methode er-
hobenes Verbrechen gegen das keimende Leben. Das war ein Grund-
zug des geistigen Lebens im Zeitalter des Intellektualismus und ist es
noch jetzt. Nicht nur, daß man alles in Kategorien ordnet, was gerade
das Eigentümliche, Beue und Seltsame verwischt, alles in Begriffe faßt,
wodurch das Unsagbare verloren geht, und alles auf Formeln bringt,
womit man das Erregende des Eindrucks beseitigt, sondern man spinnt
auch die Erlebnisse so in Gedanken ein, daß sie darin ersticken. So geht
die Welt der Wirklichkeit immer wieder unter in der Welt der Gedanken,
und die Lebensäußerungen entspringen nicht unmittelbar aus dem Quell-
leben der Seele, sondern werden ausgedacht, sorgsam überlegt und umständ-
lich ins Werk gesetzt. Auf diese Weise gehen nicht Schöpfungen aus dem
Erlebnis hervor, sondern Machwerke. Wer weiß denn heute noch etwas
außer den Kindern von unmittelbaren Klarheiten und Antrieben, die aus
ursprünglichen Eindrücken entspringen, geschweige von der quellenden Krast,
welche Lebensansprüche in uns auslösen, wenn ihre Erregungen nicht
durch unsre Reflexionen gelähmt werden! Wer weiß, daß lebendiges
Verständnis nicht gelehrt, sondern nur durch unmittelbare Berührung mit
dem Gegenstand erzeugt werden kann, daß man weder sich noch anderen
etwas klar machen kann, sondern alles von selbst klar werden muß, daß
alles, was man sich ausdenkt, nicht die Wahrheit ist, sondern nur ein
tzirngespinst, daß es Fortschritte der Erkenntnis nur auf Grund von Fort-
schritten der Erfahrung gibt!

Die Frucht des Intellektualismus ist der phantomatische Charakter des
geistigen Lebens mit dem Zwiespalt zwischen dem Wahn in uns und der
Wirklichkeit außer uns, ist der subjektive Gehalt unsrer Weltanschauung
mit seiner Willkür, seiner künstlichen Struktur und seiner tiefen Angewiß-

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