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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,3.1917

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1917)
DOI Artikel:
Müller, Johannes: Intellektualismus
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14297#0299

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heit, ist der Materialismus der Begriffe mit seiner tödlichen Wirkung
für alles Lebendige) Ursprüngliche, Neue, ist die theoretische Maßregelung
des persönlichen Lebens mit ihrer inneren Ansicherheit und ihrer steten
Verfehlung des innerlich Notwendigen, ist die Lebensfremdheit und In«
stinktlosigkeit, die alle theoretisch befangenen Menschen zu dem fort-
währenden Versehen und Vergreifen im Leben führt und sie um die
lebendige Erfüllung ihrer Lebensaufgabe bringt.

Vus alledem geht doch ohne weiteres hervor, daß keinerlei Velehrung
und Selbstbehandlung vom Intellektualismus erlösen kann, sondern nur
das Bemühen, unbefangene Fühlung mit der Wirklichkeit zu gewinneu
und unmittelbar aus ihr zu leben. Mit anderen Worten: wir müssen
unser geistiges Leben im Objektiven begründen und daraus hervorgehen
lassen, nicht in Gedanken, Begriffen, Gefühlen, Bewußtheiten, sondern im
unbewußten Sein und Geschehen, in den Tatsächlichkeiten der Beziehung
zur Wirklichkeit, der tzaltung im Leben und des Verhaltens gegenüber
seinen Anforderungen. Dann entsteht eine objektiv begründete Gemein»
schaft mit der Wirklichkeit, die ihr die Möglichkeit bietet, unmittelbar auf
uns zu wirken und sich so zu offenbaren, und die uns zu neuen Erleb»
nissen, Lebensäußerungen und Wesensentfaltungen verhilft, welche nicht
nur den Kreis unsrer Lrfahrungen erweitern, sondern uns auch über
unser bisheriges Niveau hinausführen.

Die religiöse Begründung unsers Seins vollzieht sich also nicht da---
durch, daß wir unser Bewußtsein und Leben in religiösen Vorstellungen
verankern, sondern daß wir personliche Fühlung mit der Wirklichkeit
suchen, die wir mit dem Worte „Gott" andeuten. And das geschieht nicht
dadurch, daß wir uns Gedanken darüber machen oder irgend woher an-
eignen und uns entsprechenden Gefühlen ergeben. Dadurch geraten wir
nur in einen Wahn uber Gott und rn die suggestive Gewalt einer Idee.
Sondern wir müssen seiner selbst habhaft werden. Das ist aber nur mög»
lich durch Leben. „Gott" ist das in allem Waltende. Es tritt in allen Er-^
scheinungen und VorgLngen, in allen Ansprüchen und Aufgaben, Be»
gegnungen und Zufällen an uns heran und sucht uns darin zu ergreifen.
Lassen wir nun alles ganz unbefangen zu einem ergreifenden Lrlebnis
unsrer Seele werden, indem wir uns positiv dazu stellen und freudig dar-
auf eingehen, so gewinnen wir eine unbewußte Fühlung mit „Gott" und
lassen ihn, wenn wir dann aus unserm ursprünglichen Empfinden leben»
in uns bestimmend und schöpferisch walten. Erst auf Grund dieses Ge»
schehens kommt uns allmählich zum Bewußtsein, was uns geschah, und die
göttliche Tiefe der Wirklichkeit leuchtet dann aus unsern Erlebnissen und
offenbart sich uns auf Grund unsrer Erfahrungen jenseits aller Begriffe.

Ebenso kommen wir nicht durch intellektuelles Denken zur Klarheit
über uns selbst und werden Uicht durch Beschäftigung mit uns selbst ge«^
bildet. Das sind Irrtümer und Irrwege des Intellektualismus. Nur da-
durch, daß es bei geeignetem Leben unwillkürlich zu echten Lebensäuße»
rungen unsers Selbst kommt, werden wir unsrer inne, und nur durch
schöpferische Entfaltung unsers Wesens durch leben werden wir das reine
Gebilde unsers Selbst.

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