DIE SCHRIFT UNSERER ZEIT
VON PAUL RENNER
Als vor etwa dreißig Jahren Karl Klingspor
eines Tages das Titelblatt der „Woche" sah,
kam ihm der Gedanke, sich von dem Künst-
ler, der die große Sieben gezeichnet hatte,
eine moderne Schrift entwerfen zu lassen.
So entstand die Eckmann-Type. Der junge
Unternehmer stellte sich mit dieser kühnen
Tat an die Spitze des deutschen Schriftgie-
ßereigewerbes. Er hat eine Bewegung ein-
geleitet, die uns wohl einmal in das ge-
suchte Neuland führen wird, obwohl sie zu-
nächst nicht vorwärts, sondern rückwärts
gerichtet zu sein scheint. Denn eben durch
diese „modernen" Künstlerschriften sind
wir in den schlimmsten Historismus ge-
raten, den das Schriftgewerbe je erlebt hat.
Das klingt paradox; doch ist die Ursache
nicht schwer einzusehen.
Die Schriftgießereien waren in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu
rein mechanischen Arbeitsverfahren über-
gegangen. Man arbeitete mit dem Storch-
schnabel nach Metallschablonen und mit
Bohrmaschinen. Dadurch bekam die Druck-
type eine unpersönliche Präzision und Ex-
aktheit. Unter den allen Schriften herrschte
der Typus der französischen Antiqua vor,
die im achtzehnten Jahrhundert als Nach-
ahmung der Kupferstechschriften entstan-
dene Schrift der haarfeinen Wagerechten
und kräftigen Grundstriche. (Erst die
kunstgewerbliche Bewegung Englands
brachte die mittelalterlichen Formen der
Antiqua als „Mediäval" wieder in Mode.)
Die Fraktur hatte sich aus dem Form-
charakter, den wir in der Walbaumfraktur
kennen, weitergebildet zu den farblosen
Schul- und Zeilungsfrakturen. Als jüngstes
Kind der Schriflenfamilie waren unter der
Patenschaft der Lithographie die „Stein-
schriften" entstanden, die wir heute „Gro-
tesk" nennen. Dieser vom Bewußtsein un-
behelligten und deshalb logischen Entwick-
lung der Drucktype bereitete das Eingrei-
fen der Künstler ein vorläufiges Ende. Die
Künstler wußten von der Technik des Stcm-
pelschnittes und des Schriftgusses wenig;
sie beschäftigten sich zunächst nur mit der
Schrift und verstanden darunter die Hand-
schrift. Sie lernten wieder schreiben, wie
man im Mittelaller geschrieben hat. Sie
machten keine Vorlagen für Schablonen,
nach denen die Bohrmaschinen hätten ar-
beiten können. Ihre Entwürfe forderten
vielmehr die Mitarbeit feinfühliger Stem-
pelschneider. Wir bewundern den Idealis-
mus, der Dr. Karl Klingspor dazu trieb,
auf die alte manuelle Technik des Stem-
pelschnitles zurückzugehen; aber wir ver-
stehen heute, daß zwangläufig mit der alten
handwerklichen Technik auch die histori-
schen Schriftformen wiederkommen muß-
ten. Und wir wissen, daß wir diesen Weg
nicht weitergehen dürfen. Immer stärker
empfinden wir es, daß der Eklektizismus
der modernen Künstlerschriften, daß die
Scheinblüte der modernen Buchkunst unse-
rem heutigen Stilgefühl nicht entspricht.
Wiederum wie vor einem Vierteljahrhun-
dert fragen wir deshalb nach der „Schrift
unserer Zeit".
Denn unsere Zeit hat ein neues Formgefühl!
Das ist eine Tatsache und mehr als das:
es ist eine schöpferische Kraft, die in der
Kunst wie in den Bezirken des Lebens wirkt.
Der Materialismus versucht die Leistungen,
in denen wir diese neue Gesinnung spüren,
zu erklären, als Produkt der Maschine, als
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VON PAUL RENNER
Als vor etwa dreißig Jahren Karl Klingspor
eines Tages das Titelblatt der „Woche" sah,
kam ihm der Gedanke, sich von dem Künst-
ler, der die große Sieben gezeichnet hatte,
eine moderne Schrift entwerfen zu lassen.
So entstand die Eckmann-Type. Der junge
Unternehmer stellte sich mit dieser kühnen
Tat an die Spitze des deutschen Schriftgie-
ßereigewerbes. Er hat eine Bewegung ein-
geleitet, die uns wohl einmal in das ge-
suchte Neuland führen wird, obwohl sie zu-
nächst nicht vorwärts, sondern rückwärts
gerichtet zu sein scheint. Denn eben durch
diese „modernen" Künstlerschriften sind
wir in den schlimmsten Historismus ge-
raten, den das Schriftgewerbe je erlebt hat.
Das klingt paradox; doch ist die Ursache
nicht schwer einzusehen.
Die Schriftgießereien waren in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu
rein mechanischen Arbeitsverfahren über-
gegangen. Man arbeitete mit dem Storch-
schnabel nach Metallschablonen und mit
Bohrmaschinen. Dadurch bekam die Druck-
type eine unpersönliche Präzision und Ex-
aktheit. Unter den allen Schriften herrschte
der Typus der französischen Antiqua vor,
die im achtzehnten Jahrhundert als Nach-
ahmung der Kupferstechschriften entstan-
dene Schrift der haarfeinen Wagerechten
und kräftigen Grundstriche. (Erst die
kunstgewerbliche Bewegung Englands
brachte die mittelalterlichen Formen der
Antiqua als „Mediäval" wieder in Mode.)
Die Fraktur hatte sich aus dem Form-
charakter, den wir in der Walbaumfraktur
kennen, weitergebildet zu den farblosen
Schul- und Zeilungsfrakturen. Als jüngstes
Kind der Schriflenfamilie waren unter der
Patenschaft der Lithographie die „Stein-
schriften" entstanden, die wir heute „Gro-
tesk" nennen. Dieser vom Bewußtsein un-
behelligten und deshalb logischen Entwick-
lung der Drucktype bereitete das Eingrei-
fen der Künstler ein vorläufiges Ende. Die
Künstler wußten von der Technik des Stcm-
pelschnittes und des Schriftgusses wenig;
sie beschäftigten sich zunächst nur mit der
Schrift und verstanden darunter die Hand-
schrift. Sie lernten wieder schreiben, wie
man im Mittelaller geschrieben hat. Sie
machten keine Vorlagen für Schablonen,
nach denen die Bohrmaschinen hätten ar-
beiten können. Ihre Entwürfe forderten
vielmehr die Mitarbeit feinfühliger Stem-
pelschneider. Wir bewundern den Idealis-
mus, der Dr. Karl Klingspor dazu trieb,
auf die alte manuelle Technik des Stem-
pelschnitles zurückzugehen; aber wir ver-
stehen heute, daß zwangläufig mit der alten
handwerklichen Technik auch die histori-
schen Schriftformen wiederkommen muß-
ten. Und wir wissen, daß wir diesen Weg
nicht weitergehen dürfen. Immer stärker
empfinden wir es, daß der Eklektizismus
der modernen Künstlerschriften, daß die
Scheinblüte der modernen Buchkunst unse-
rem heutigen Stilgefühl nicht entspricht.
Wiederum wie vor einem Vierteljahrhun-
dert fragen wir deshalb nach der „Schrift
unserer Zeit".
Denn unsere Zeit hat ein neues Formgefühl!
Das ist eine Tatsache und mehr als das:
es ist eine schöpferische Kraft, die in der
Kunst wie in den Bezirken des Lebens wirkt.
Der Materialismus versucht die Leistungen,
in denen wir diese neue Gesinnung spüren,
zu erklären, als Produkt der Maschine, als
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