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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 2.1927

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Raemisch, Erich: Die Deutsche Seidenindustrie
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https://doi.org/10.11588/diglit.13210#0074

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DIE DEUTSCHE SEIDENINDUSTRIE

VON DR. E. RAEMISCH

Eine besondere Darstellung der typischen
Eigenart der Produktion der deutschen Sei-
denindustrie, wie sie an dieser Stelle beab-
sichtigt ist, kann nicht an der Frage vor-
übergehen, unter welchen Bedingungen
diese Industrie arbeitet und welche beson-
deren Momente für ihre Niederlassung und
Entwicklung in Deutschland maßgebend
waren. Während sich eine seidenindustri-
elle oder besser seidengewerbliche Betäti-
gung in früheren Zeiten nur auf eigener,
breitester Bohstoffbasis aufbauen konnte,
wie dies bei den ältesten und heute noch
höchst bedeutungsvollen Seidenländern
China, Japan, Frankreich und Italien der
Fall war, traten diese engen Zusammen-
hänge zwischen Bohstofferzeugung und
Weiterverarbeitung der Faser mit dem Auf-
bau des internationalen Verkehrs zurück.
Die Transportkosten spielten jetzt eine —
insbesondere im Hinblick auf den hohen
spezifischen Wert der Seide — geringere
Bolle und die industrielle Betätigung
konnte an Orten aufgenommen werden, die
sich auf Grund besonderer Verhältnisse
hierfür eigneten.

Deutschlands Seidenindustrie kann ihre
Entstehung auf diese Umschichtung in den
Produktionsgrundlagen zurückführen. Ihr
Aufbau in allen Teilen des Beiches erfuhr
anfänglich — vor etwa 200 Jahren — durch
Schutzzölle und Privilegien weitgehende
staatliche Unterstützungen. Die Industrie
konnte jedoch zu einer wirklichen Blüte,
vor allem nachdem die Wirtschaftspolitik
im Laufe der Zeit sich freihändlerischen,
liberalen Ideen zugewandt hatte, nur da ge-
langen, wo die besonderen Verhältnisse für
ihre Existenz gegeben waren: eine beweg-
liche, zu Qualitätsleistungen fähige Arbei-
terschaft und eine Bevölkerung, die den
Stimmungen und Anregungen der Mode
gegenüber anpassungsfähig ist. Der Westen
Deutschlands ist deshalb zum vornehm-
lichen Sitz der Seidenindustrie geworden.

Während also insbesondere das Bheinland
und die angrenzenden Gebiete aus diesen

Gesichtspunkten heraus als Standort für die
Seidenindustrie in hohem Maße geeignet er-
scheinen, hat hier ein anderes Moment die
industrielle Erzeugung stets auf das
schärfste beeinflußt: das hohe Lebensniveau
der westdeutschen Bevölkerung. Die daraus
auch für die Industrie resultierenden Löhne
und die auf diesem Standard wiederum be-
gründete Leistungsfähigkeit der Arbeiter-
schaft haben dazu beigetragen, die Industrie
auf die Erzeugung qualitativ und ge-
schmacklich hochstehender Gewebe zu spe-
zialisieren. Nicht Stapelartikel, bei denen
es sich im internationalen Konkurrenz-
kampf vor allem um den nackten Faktor
Arbeitslohn dreht, werden deshalb vor-
nehmlich in Deutschland hergestellt, das
Bemühen der Industrie ist es vielmehr, be-
sondere Spezialerzeugnisse hervorzubrin-
gen, deren qualitative Beschaffenheit einen
Ausgleich für den höheren Lohnposten
darstellt.

Diese Qualitätserzeugung kann nun bei
einem Seidengewebe auf den verschieden-
sten Gebieten liegen: in der Qualität des
einzelnen zur Verwendung gelangenden
Bohstoffes, in der Kombination der ver-
schiedenen Bohstoffe miteinander, in der
technischen Verarbeitung dieser einzelnen
Bohstoffe und schließlich in der ge-
schmacklichen Ausgestaltung, d. h. in der
Farbgebung und Musterung.
Die Herstellung der Gewebe ihrem Verwen-
dungszweck entsprechend vorzunehmen, sie
der Konsumfälligkeit und dem Geschmacks-
gefühl der Abnehmerschaft anzupassen,
ohne in die Versuchung zu fallen, minder-
wertige Erzeugnisse hervorzubringen, ist
einer der Hauptgesichtspunkte, der che
deutsche Produktion leitet. Diese muß —
insbesondere nach dem Vordringen der
Kunstseide, die zu einer erheblichen Ver-
billigung der seidenen Stoffe und Bänder
beigetragen hat — den verschiedensten An-
sprüchen und mannigfaltigsten Qualitäts-
und Geschmacksanforderungen der euro-
päischen und außereuropäischen Bevölke-
rung gerecht werden.

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