ZEITGEMÄSSE BUCHGESTALTUNG
VON JAN TSCHICHOLD, MÜNCHEN
in den letzten jähren hat sich, wie in der
architektur, auch auf dem gebiete der buch-
gestaltung eine Umwälzung vollzogen, die,
bisher nur von wenigen erkannt, jetzt einen
weiteren aktionsradius zu ziehen beginnt,
sie bedeutet den kämpf um eine neue opti-
sche gestalt des buches, eine zeitgemäße,
restlose ausnützung der typografischen und
fotografischen mittel und methoden.
vor der erfindung des buchdrucks wurde
die dichtung der zeit von den autoren selbst
oder anderen berufsmäßigen sängern münd-
lich vorgetragen, die bücher des mittel-
GUILLEAUME APOLLINAIRE: CALLIGRAMME
alters — etwa die manessische liederhand-
schrift — haben lediglich die funktion einer
das gesprochene wort festhaltenden nieder-
schrift. der buchdruck hatte zwar schon
zur zeit seiner erfindung zur folge, daß an
die stelle mündlichen Vortrags der dich-
tung durch berufsmäßige ansager das ab-
lesen vom gedruckten buche trat.*) der
mensch des i5. jahrhunclerts stand aufrecht
vor dem lesepult und las sich (oder ande-
ren) den inhalt laut vor. daher die gro-
ßen lettern, die für die mehrzahl der goti-
schen bücher charakteristisch sind, zu-
nehmende beschleunigung des lesetempos
machte in der folgezeit die Verwendung
kleinerer typen möglich,
das laute und langsame lesen — das ab-
tasten des einzelbuchstabens, des einzelwor-
tes ist in unserer zeit dem überfliegen des
textes gewichen, die lesetechnik des heuti-
gen menschen führte zu der spezifischen
form des zeitungssatzes mit seinen großen
und kleinen zeilen, ihren verschiedenen fet-
tigkeitsgraden, der Sperrung einzelner worte
und ganzer sätze, der hervorhebung durch
großen ausschluß und weiten durchschuß
usf. so geben die zeitungen in ihrer typo-
grafie ein Sinnbild des lebenstempos unse-
rer zeit.
in der literatur haben sich parallele Wand-
lungen vollzogen, der dichter der gegen-
wai't beschreibt nicht mehr wie etwa die dich-
ter des 19. jahrhunderts die gefühle seiner
helden und die landschaften der handlung
in epischer breite. die Schnelligkeit und
gedränglheit des films hat die literatur in
der richtung nach filmisch-momentbild-
hafter gestaltung beeinflußt, an die stelle
des romans ist die short story getreten,
auf der suche nach neuen ausdrucksmitteln
sind einige dichter der gegenwart auf die
typografie gestoßen, aus richtigen erkennt-
*) die ansager verschwanden natürlich nicht plötzlich, erst in den letzten jähren hat ein minimum an interesse
beim publikum ihr verschwinden bewirkt, für solche dichtungen, die auf akustischer wirkung beruhen — bei
denen der mündliche Vortrag für die wirkung unerläßlich ist — bleibt die Schallplatte als relativ vollkommene
möglichkeit einer niederschrift: kurt schwitters und joachim ringelnatz haben folgerichtig einige ihrer „akustischen"
Schöpfungen auf voxplatten gesprochen.
116
VON JAN TSCHICHOLD, MÜNCHEN
in den letzten jähren hat sich, wie in der
architektur, auch auf dem gebiete der buch-
gestaltung eine Umwälzung vollzogen, die,
bisher nur von wenigen erkannt, jetzt einen
weiteren aktionsradius zu ziehen beginnt,
sie bedeutet den kämpf um eine neue opti-
sche gestalt des buches, eine zeitgemäße,
restlose ausnützung der typografischen und
fotografischen mittel und methoden.
vor der erfindung des buchdrucks wurde
die dichtung der zeit von den autoren selbst
oder anderen berufsmäßigen sängern münd-
lich vorgetragen, die bücher des mittel-
GUILLEAUME APOLLINAIRE: CALLIGRAMME
alters — etwa die manessische liederhand-
schrift — haben lediglich die funktion einer
das gesprochene wort festhaltenden nieder-
schrift. der buchdruck hatte zwar schon
zur zeit seiner erfindung zur folge, daß an
die stelle mündlichen Vortrags der dich-
tung durch berufsmäßige ansager das ab-
lesen vom gedruckten buche trat.*) der
mensch des i5. jahrhunclerts stand aufrecht
vor dem lesepult und las sich (oder ande-
ren) den inhalt laut vor. daher die gro-
ßen lettern, die für die mehrzahl der goti-
schen bücher charakteristisch sind, zu-
nehmende beschleunigung des lesetempos
machte in der folgezeit die Verwendung
kleinerer typen möglich,
das laute und langsame lesen — das ab-
tasten des einzelbuchstabens, des einzelwor-
tes ist in unserer zeit dem überfliegen des
textes gewichen, die lesetechnik des heuti-
gen menschen führte zu der spezifischen
form des zeitungssatzes mit seinen großen
und kleinen zeilen, ihren verschiedenen fet-
tigkeitsgraden, der Sperrung einzelner worte
und ganzer sätze, der hervorhebung durch
großen ausschluß und weiten durchschuß
usf. so geben die zeitungen in ihrer typo-
grafie ein Sinnbild des lebenstempos unse-
rer zeit.
in der literatur haben sich parallele Wand-
lungen vollzogen, der dichter der gegen-
wai't beschreibt nicht mehr wie etwa die dich-
ter des 19. jahrhunderts die gefühle seiner
helden und die landschaften der handlung
in epischer breite. die Schnelligkeit und
gedränglheit des films hat die literatur in
der richtung nach filmisch-momentbild-
hafter gestaltung beeinflußt, an die stelle
des romans ist die short story getreten,
auf der suche nach neuen ausdrucksmitteln
sind einige dichter der gegenwart auf die
typografie gestoßen, aus richtigen erkennt-
*) die ansager verschwanden natürlich nicht plötzlich, erst in den letzten jähren hat ein minimum an interesse
beim publikum ihr verschwinden bewirkt, für solche dichtungen, die auf akustischer wirkung beruhen — bei
denen der mündliche Vortrag für die wirkung unerläßlich ist — bleibt die Schallplatte als relativ vollkommene
möglichkeit einer niederschrift: kurt schwitters und joachim ringelnatz haben folgerichtig einige ihrer „akustischen"
Schöpfungen auf voxplatten gesprochen.
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