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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 29.1918

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Gleichen-Rußwurm, Alexander von: Kleiderart und Bauweise
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https://doi.org/10.11588/diglit.10022#0159

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INNEN-DEKORATION

143

Frankreich, dem Hauptland der Mode, die Erlaubnis
des »vertugadin« (damaliger Name des Reifrocks)
begehrte trotz der hinderlichen Luxusgesetze.

Das Gebot der Harmonie wirkt weiter, der
großen Linie nach. Wie der Stil seine Pracht zier-
lich stutzt und allerlei Spielerei entstehen läßt, so
wird die Kleidertracht spielerisch zierlich mit
allen lieblichen Narreteien des Rokoko. Die innere
Übereinstimmung von Muschelzierat, gewundenen
Säulchen und Guirlanden mit den Paniers, den
Stöckelschuhen und gepuderten Locken, den Spie-
geltischchen, den geblümten kleinen Möbeln ist
nicht wegzudenken.

Zuerst wendete man sich in England von diesem
Eigentümlichen, in jedem Zweig des Lebens fest
ausgeprägten Ideal ab und neigte sich jener Ge-
schmacksrichtung zu, die auf dem Festland erst
als »Empire« zu vollem Ausdruck gelangte. Von
einigen Künstlern angeregt, erinnerte man sich
neuartig der Antike. In Bauten und Ausgestaltung
der Innenräume zeigte sich einfache, geradlinige,
strengere Tendenz. Da
fiel der Puder aus den
Locken, stillere Formen
herrschten in der Kleider-
tracht. Dieser Geschmack
geriet mit dem empfindsa-
men Wesen nach Deutsch-
land und drang gerade zu
rechter Zeit nach Paris, als
die Politik mit den Idealen
alter Republiken zu spie-
len anfing und fanatisch
von deren Glück, deren
Freiheit, deren inneren
und äußeren Lebensfor-
men phantasierte. Hier
tritt die Übereinstimmung
endlich nicht mehr naiv
sondern prinzipiell gewollt
auf und daher oft parodi-
stisch kühn. In Bauten,
Einrichtung und Kleider-
mode entstand aus einem
Guß, aus einem zwingen-
den, gültigen, durchdrin-
genden, beseelenden Ge-
danken und Glauben der
letzte große europäische
Stil. — Von nun an fehlt
eine vollkommen duchge-
führte, naiv angenommene
Überzeugung.es entstehen
verhältnismäßig raschle-
bige und unsichere Bau-
weisen und Kleiderarten.
Am ausgesprochensten lö-
sen sich aus der Zeit noch

prof. a. niemeyer. kamin-gerate. deutsche werkstatte

die vom Empire abgeleiteten Formen des Bieder-
meiertums und das sogenannte »second empire«
mit klaren, bestimmt ausgeprägten Grundgedanken.
Das absichtlich bescheidene und ehrpußliche des
Biedermeierstils offenbart sich in der Bauart, die
bescheiden und traulich sein will und den vielleicht
zum erstenmal bewußt auf das praktisch-bequeme
gerichteten Kleidern. Haußmanns Baustil zur Zeit
des dritten Napoleon deckt sich mit der Krinoline
in der Idee. Man wird an die Bauleidenschaft der
Renaissance erinnert, an ihre Reifröcke und Pracht-
liebe, aber bei näherem Zusehen fehlt wahre
Kunst und Köstlichkeit im Großen und Kleinen.
Schon beginnt die Fabrikarbeit Einfluß zu neh-
men, das Material wird manchmal minderwertig,
die Ausführung kleinlich und seelenlos.

In jüngster Zeit endlich waren es fast aus-
schließlich Nutzbauten, die ein ästhetisches Ideal
im praktisch Vollendeten zum Ausdruck brachten,
ebenso in der Kleidung, wo ein neuer Zeitge-
danke nur in Sport- und Reiseanzug wahrnehmbar

wurde. Die große Nüch-
ternheit der Weltanschau-
ung und der Komfort fan-
den in Bau und Tracht
eindringliche Sprache, an-
dererseits drückten sich
beredt rasches Empor-
kommen und Protzentum
aus in mehr überschweng-
lichen als schönen Monu-
mentalbauten, wie in über-
schwenglichen Kleider-
bauten, deren Architektur
sich maßlos anspruchsvoll
gebärdete. Überall Un-
ruhe, Hast, ein äußerlicher
Prunk ohne stille und naive
Befriedigung. Überall Un-
freiheit das Merkmal der
Zeit, als eigentlicher Sinn.
— Doch überall schon
ein geheimer Protest am
Werk. Da und dort regt
sich ein vereinzeltes, al-
lein mutiges Streben nach
einem neuen Stil der
Freiheit und Freude.
Seine erhabene, innerlich
notwendige Linie möge
siegreich, edel und zwin-
gend aus Deutschlands,
aus Europas großem Wie-
deraufbauhervorgehen.—

£

Eigentümlichkeit des Aus-
drucks ist Anfang und
Ende aller Kunst... goethe.
 
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