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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 14.1898-1899

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Lange, Konrad von: Realismus, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.12049#0092

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66

Realismus

es erhebt sich nun die Frage, ob man hier, d. h. innerhalb dieser Auffassung, zwei Richtungen unter-

scheiden kann, die als die realistische und naturalistische bezeichnet werden könnten. Das ist nun in der

That der Fall, und da dieser Unterschied von der bisherigen Aesthetik nicht erkannt, wenigstens noch nicht
. genau formuliert worden ist, so will ich versuchen, ihn in wenigen Zügen zu entwickeln. Eine solche
Entwicklung wird uns gleichzeitig den richtigen Standpunkt für die Beurteilung verschiedener moderner
Kunstrichtungen geben.

, Nach der Theorie des extremen Naturalismus, wie er etwa durch Arno Holz vertreten wird, wäre

es die Aufgabe des Kunstwerks, eine wirkliche Täuschung zu erzeugen, d. h. die Kunst hätte die Tendenz, mit
der Natur gewissermaßen zusammenzufallen. Nur in diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die dramatische
Dichtkunst unserer jüngsten Naturalisten danach strebt, die Komposition vollständig als Nebensache zu betrachten,
uns auf der Bühne gewissermaßen nur einen beliebigen — rein zufälligen — Ausschnitt aus dem Leben zu
- geben. Nur dieses Ziel können die Schauspieler im Auge haben, die sich bemühen, den Dialog auf der
Bühne ebenso rasch, ebenso leise, ebenso ausdruckslos zu sprechen, wie man ihn im gewöhnlichen Leben zu
sprechen pflegt. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist es verständlich, wenn ein Maler sich der Moment-
photographie bedient, um gewisse Bewegungen, z. B. eine gewisse Beinhaltung galoppierender Pferde, die man
in Wirklichkeit gar nicht wahrnimmt, zu fixieren, wenn unsere moderne Plastik nach einer impressionistischen
Auflösung der Formen'strebt, die der Natur ihres Materials direkt zuwider ist u. s. w.

Alle diese Mittel und Mittelchen laufen auf eine Vermischung von Kunst und Natur, auf eine wirkliche

Täuschung hinaus. Sie wollen den Unterschied des Kunstwerks von der Natur vergessen machen, dem Beschauer

die Meinung einflößen, als ob er Wirklichkeit, einen wirklichen Ausschnitt aus der Natur vor sich hätte. Da
sich für diese extreme Richtung der Name Naturalismus einmal eingebürgert hat, wird man gut thun, ihn
beizubehalten und also unter Naturalismus diejenige Richtung der Kunst zu verstehen, die
ihrer Intention nach darauf ausgeht, den Unterschied von Kunst und Natur zu verwischen,
- d. h. eine wirkliche Täuschung hervorzubringen.

. Davon läßt sich nun sehr scharf eine zweite Richtung unterscheiden, die die genaue Wiedergabe der Natur

in der Kunst überhaupt für unmöglich hält und das Ziel der Kunst schon deshalb nicht in dieser Richtung suchen
will, weil sie ihr Wesen nicht in einer wirklichen, sondern in einer bewußten Selbsttäuschung erblickt. Diese
Richtung, die ich z. B. schon seit Jahren in meinen Vorlesungen und Schriften vertrete, geht von der Thatsache
aus, daß jede Kunst ihrem Wesen, d. h. ihren technischen Darstellungsmitteln nach eine mehr oder weniger
c starke Veränderung der Natur fordert. Die Richtigkeit dieser Auffassung läßt sich durch eine Betrachtung
der verschiedensten Künste leicht Nachweisen.

Ehe in unsere moderne Schauspielkunst die extrem naturalistische Richtung eindrang, waren unsere

besten Schauspieler der Ansicht, daß man beim Sprechen und
Gestikulieren auf der Bühne die Natur in einer ganz be-
stimmten Richtung abändern müsse, um eine volle Wirkung
zu erzielen. Als das Wesentliche dieser Abänderung kann
man die Verdeutlichung betrachten. In einem Theater, wo
die entferntesten Zuschauer sehr weit von der Bühne weg-
sitzen, kann man nicht so sprechen, sich nicht so bewegen, wie
im gewöhnlichen Leben. Die Worte würden für das Ohr, die
Bewegungen für das Auge undeutlich werden. Man muß viel-
mehr langsamer und eindrucksvoller sprechen, größere und mar-
kantere Bewegungen machen, alles Kleine, Zufällige, Nichts-
sagende ausscheiden. Jeder, der einmal, wenn auch nur als
Dilettant, auf den Brettern gestanden hat, die die Welt be-
deuten, weiß, daß man sich hier in seiner Stellung und Be-
wegung genau nach den übrigen Schauspielern und nach dem
Publikum richten muß. Ein „Durcheinanderwurschteln" der
Personen in der Art, wie es wohl zuweilen im Leben vorkommt,
ist auf der Bühne unmöglich. Nun kann man ja natürlich bei
einer solchen Veränderung der Natur entweder weiter oder
weniger weit gehen, und ein guter Schauspieler wird das Ver-
hältnis seines Spiels zur Natur ganz verschieden einrichten, je
nachdem er in einem klassischen oder in einem modernen natura-
listischen Stück spielt, je nachdem er auf einer großen oder
kleinen Bühne auftritt. Je mehr sich die Bühne mit dem
Zuschauerraum den Verhältnissen eines Saales oder Zimmers
 
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