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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

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Jessen, Jarno: George Frederick Watts
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https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0235

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GEORGE FREDERICK WATTS

wäre die Lebenskraft des Meisters wohl längst
gemindert. So schafft er seine gemalten
Ideen, oft der inneren Eingebung folgend,
oft als Tendenzwerke. Sterne sind sie, oder
Leuchtturmlichter. Ein Lehrer, ein Prophet
will der grosse Watts sein, und immer ist
er vor allem der Künstler. Passt auf Burne-
Jones das Wort Tassos aus dem „Befreiten
Jerusalem": Er wünscht viel, hofft wenig,
fordert nichts, so muss es bei Watts heissen:
er wünscht viel, hofft viel und fordert viel.
Zuweilen lagert sich auch der melancholische
Nebelhauch Englands über sein Werk. Dann

G. F. WATTS DIEJJEUIGE EVA

sinnen seine Wesen vor sich hin wie die
poetischen Geheimnisse Giorgiones. Aber
auch noch in mancher Arbeit seines Greisen-
alters pulsiert Tizians Lebensfülle. Immer
ist seine Formensprache statuarisch, an den
Elgin Marbles gebildet. Wie er oft grüblerisch
Farben und Formen auflöst, ist er andrerseits
kompakt, kolossal. Watts beurteilen wollen,
heisst sein Schaffen in England studieren.
Nach vereinzelten Bildern, die er widerwillig
hergiebt, die er, wegen dieser Abneigung,
gleichgültig aus seiner Fülle hernimmt, kann
man ihm nie gerecht werden. Was fragt der
einsame Denker nach dem Beifall der Menge.
„Wissen Sie, was ich einen Erfolg nenne",
hat er mir einmal erklärt, „das war, als eine
unglückliche Braut zwanzig Pfund von mir
borgen kam, weil sie sich unbedingt auf den
Maler von „Leben und Liebe" verliess." Den
Adel hat Watts zweimal ausgeschlagen. Aber
wenn jetzt die Watts-Säle in der neueröffneten
britischen Nationalgalerie, im Täte-Museum,
eingerichtet sind, erfüllt ihn dies mit hoher
Genugthuung. Unter den achtzehn Bildern,
die hier seine vorläufige Gabe an die Nation
repräsentieren, findet sich manches Werk der
letzten Schaffensjahre.

Watts' Mission als Apostel der Humanität
predigt der „Geist des Christentums" (S. 218).
Die Sektenstreitigkeiten der englischen Kirche
haben dieses Bild hervorgerufen. Auf einer
Tragwolke malt er ein hoheitsvolles Wesen,
das die unverträglichen Kindlein mit ver-
söhnender Liebe in seinem Schosse eint.
Die Liebe ist ihm die einzig sieghafte Macht,
das hat er unermüdlich in immer neuer Form
verkündet. Seine „triumphierende Liebe", das
Glanzwerk der vorjährigen Akademie, das in
H. 6 d. vor. Jahrg. bereits reproduziert wurde,
sprach diesen Gedanken mit dramatischem En-
thusiasmus aus. Auch die zweite christliche
Tröstung, den „Glauben", hat er neuerdings
vollendet. Fern vom Schlachtfeld der Religions-
kämpfe zeigt er ihn, das Schwert im Schosse,
den Blick wie für eine Himmelsbotschaft nach
oben gerichtet. Erlauschtdem Lied der Lerche,
während seine Füsse im klaren Wasser spielen.
Und wie zürnt der Greis im Gedenken der
Sündenchronik seiner Zeit. Er malt den Eng-
ländern den Propheten „Jonas" (S. 223), der
im glühenden Blick den Untergang Ninives
erschaut. In der Muskelsprache des Körpers,
bis in die gespreizten Finger, die gestrafften
Gewandfalten kündet sich der anklagende
Seher. Auf der steinernen Wand des Hinter-
grundes hat der Künstler im Relief die Laster
seiner Mitmenschen angedeutet. Eine Ge-
stalt von furchtbarer Wucht der Anklage ist

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