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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

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Gleye, Carl Erich: Die vierte Seele
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https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0418

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-sr*ö> DIE VIERTE SEELE <^«-

Auch sie verlangte es, gleich jenen in
poetischen Schöpfungen fortzuleben. Zwar
hatte ihr Gemahl sie schon auf mehreren
Gemälden verewigt, aber die Malerei war doch
eine Kunst, deren Sprache nur einem aus-
erwählten, kleinen Kreise verständlich ist, und
wie bald fällt das Persönliche an einem Ge-
mälde der Vergessenheit anheim.

Unsterblichkeit konnte nur die Poesie ihr
gewährleisten. So reifte denn in der schönen
Frau allmählich der Entschluss, in ihrem Ge-

EUGEN KIRCHNER del.

mahle die vierte Seele zu wecken, die gewiss
bisher nur geschlummert hatte. Denn mit
vollem Rechte sollte man ihn den Michel-
angelo der neuen Renaissance des neunzehnten
Jahrhunderts nennen.

Wie tief hatte es sie gekränkt, als fürstlicher
Mund jenem nordischen Künstler den Ehren-
namen des deutschen Michelangelo zu teil
werden Hess. Wenn überhaupt einem Zeit-
genossen, so gebührte dieser Name ihrem Ge-
mahl, und ihr Werk sollte es sein, ihn dieses
hohen Namens ganz würdig zu machen. Und
mit der Energie, der eben nur ein liebendes
Weib fähig ist, machte sie sich an ihre Aufgabe.

Nun brach eine ernste Zeit für die schöne
Frau an. Sie begann sich für die Geheimnisse

der Seelenkunde zu interessieren, sie fing an,
das Genie bei seiner schöpferischen Thätigkeit
zu belauschen. Ein berühmter Psychologe,
der ein häufiger Gast ihrer klassischen Sym-
posien war, musste ihr nicht nur auf manche
scharfsinnige Frage Rede und Antwort stehen,
sondern ihr auch die für das schwierige
Studium erforderliche Litteratur beschaffen.
Sie las Biographien berühmter Dichter und
Künstler, die sie bei ihrem Schaffen aufsuchte.
Sie sah, dass der eine durch Schaumwein,
der andere durch faule Aepfel, der dritte durch
Harmoniumspiel, der vierte endlich durch den
Anblick farbiger Seidenstoffe zum Schaffen
angeregt wurde. Sie hörte von einem nordischen
Künstler, der seiner Vaterstadt ein ganzes
Museum mit seinen Werken gestiftet hatte,
dass er nicht nur dichte, sondern auch kom-
poniere. Ein ehemaliger Schüler dieses Herrn
teilte ihr mit, dass sein Meister meist Eisbein
esse und eine Berliner Weisse trinke, bevor
die Muse ihn heimsuche, aber die schöne
Frau hegte doch Zweifel, ob mutatis mutandis
eine Haxe und ein Glas Weizenbier bei ihrem
Gemahl die gleiche Wirkung haben würde.
Weit schwieriger war der zweite Teil ihrer
Aufgabe, dem Gemahle den Willen zur poeti-
schen That zu suggerieren. Als sie zum ersten-
male vom Dichten zu reden anfing, hatte er
in seiner lapidaren, epigrammatischen Rede-
weise seine Ansichten über dieses Thema in
das eine Wort „Schmarren" konzentriert. Aber
trotzdem beobachtete sie ihren Gemahl mit
Aufmerksamkeit, ob nicht doch bei ihm die
Keime poetischen Schaffens zu bemerken
wären. Sie untersuchte seine Papiere, alten
Briefe, Schulhefte; Zeichnungen und Karika-
turen fand sie genug; was sie an poetischen
Erzeugnissen entdeckte, rührte leider nicht
von seiner Hand her, sondern von weiblicher,
und selbst das Gefühl, dass sie Siegerin ge-
blieben war, konnte die Enttäuschung nicht
mildern.

So wartete die treue Gemahlin vergeblich,
aber trotzdem gab sie die Hoffnung nicht
auf, dass eines Tages die vierte Seele ihre
Schwingen entfalten würde.

Wochen waren vergangen. Als eines Nach-
mittags der grosse Künstler heimkehrte, konnte
er seiner Gemahlin eine freudige Nachricht
mitteilen. Der Staat hatte sein Kolossalgemälde
„Athena besiegt die Giganten" angekauft, in
das er sein ganzes hervorragendes Können
gelegt hatte. Der grosse Künstler fühlte, dass
er auf der Mittagshöhe seines Ruhmes stand.

Und in dieses Gefühl aufrichtiger Befriedi-
gung mischte sich das der Dankbarkeit gegen
seine Gemahlin, deren Züge auf dem Gemälde

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