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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

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Gleye, Carl Erich: Die vierte Seele
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https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0419

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~s^g> DIE VIERTE SEELE

die Zeustochter trug. Mit weiblichem Fein- Erinnerung an die alte, liebe, schlichte Heimat;
gefühl hatte die schöne Frau diese Stimmung alles, was ihn umgab, schien ihm fremd zu sein,
ihres Gemahls herausgefühlt. Auch sie war es war ihm, als wenn er sich davon befreien
von seinem grossen Erfolge beglückt. Aber müsste, und plötzlich stand wie ein alter,
dennoch war ihre Freude nicht vollkommen: lange nicht gesehener Freund ein poetischer
die vierte Seele war ja noch nicht erwacht. Gedanke vor ihm. Er ergriff den Stilus und
Und eine Ahnung sagte ihr, dass gerade der grub langsam mehrere Reihen von Schrift-
heutige Abend ihrem Wunsche günstig sein zügen in das weiche Wachs. Mit einem
würde; es war ihr, als fühlte sie schon die Lächeln der Befriedigung überlas er das Auf-
Schwingungen der vierten Seele. Als sie mit gezeichnete. Aber die Aufregungen des Tages,
ihrem Gemahle beim reichen, der Bedeutung die ungewohnte Anstrengung und nicht zuletzt
des Tages angemessenen Mahle traulich bei- der Wein forderten ihr Recht. Sein Haupt
sammen sass, trug sie ihm ihre Bitte vor, sank ihm auf die Brust, und er fiel in einen
und gross war ihre Freude, als er nicht abge- tiefen Schlummer. Der Morgen graute
neigt schien, sie zu erfüllen. Schnell schaffte kaum, als im traulichen Schlafgemache des
sie ein paar Flaschen edlen Schaumweines in Künstlers Gattin erwachte. Erwartung und
sein Arbeitszimmer und that zum Ueberfluss Neugier hatten sie nicht länger schlafen lassen,
noch ein paar verfaulte Aepfel auf seinen und zum Erwachen hatte ein regelmässiges
Arbeitstisch, auf dem mehrere Wachstafeln, Rasselgeräusch, das aus dem anstossenden
die Raum für eine Ilias boten, neben einem Gemache drang, noch das Seinige beigetragen,
antiken Stilus schon lange auf Benützung Schnell schlüpfte sie in ein köstliches Morgen-
warteten. Dann geleitete sie den Gemahl bis gewand von serischem Stoffe und trat eilenden
an die Schwelle der stillen Arbeits-
stätte, empfahl ihn mit einem Stirn-
kusse der Huld der Musen und zog
sich zurück.

Schwer fiel die wuchtige Gestalt
des grossen Künstlers auf den
ihm als Schreibstuhl dienenden,
vergoldeten Bronzedreifuss. Er
schenkte sich ein Glas Wein ein
und versuchte es, seine Gedanken
zu konzentrieren. Aber seine rast-
los schaffende Phantasie gaukelte
ihm eine Fülle von Bildern vor.
In düsteren Farben und wuchtigen
Linien zogen die Thaten des
Herakles an ihm vorbei, denen
sich eine Schwadron von Ama-
zonen anschloss. Sein geistiges
Auge sah eine ganze Villenkolonie,
in der alle antiken Stilarten zum
Ausdrucke kamen. Aber was half
ihm das alles? Kein poetischer
Gedanke wollte ihm kommen. Ver-
zweifelt schenkte er sich wieder
ein Glas Wein ein, nervös spielte
seine Hand mit dem Stilus, aber
es wollte ihm noch immer nicht
kommen. Lange sass er so da,
und schnell verging die Zeit. Da
schlug es vom Turme des nahen
Dorfkirchleins, welches jetzt von
den steinernen Armen der Gross-
stadt umklammert wurde, zwölf,
und weithin tönten die einzelnen
Schläge durch die stille Nacht. Und
mit einem Male überkam ihn die

EUGEN KIRCHNER del.

Die Kunst für Alle XV.

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