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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 50.1934-1935

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Pinder, Wilhelm: Zum "Bilde des Monats" (Dezember 1934): Dürer: Anbetung des Kindes
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Zum „Bilde des Monats"*) (Dezember 1934). Dürer: Anbetung des Kindes

Von Wilhelm Pinder

L

Vortrag, gehalten am 1. Dezember 1934

Das erste ..Bild des Monats" ist ein Weihnachtsbild;
es ist ein altes Bild: und es ist von einem der größ-
ten Künstler, die unser Volk hervorgebracht hat.
Aus diesen drei Gründen hat es den Auftrag, heute
zu uns allen zu sprechen.

Denn: Weihnachten ist ja ein Fest, dessen Sinn
noch das ganze Volk erlebt. Von allen alten Bräu-
chen ist dieser noch am wenigsten angenagt, er über-
dauerte allen Y\ andel und blieb, wo so vieles sonst
verlorenging und abgerieben wurde. Es ist ein
Brauch, in dem der christliche Glaube eine unlös-
liche Verbindung mit einem uralten vorchristlichen
Feste unserer Vorfahren eingegangen ist. Es ist die
Wintersonnenwende. Ein Weihnachtsbild jetzt, wo
wir uns der Wintersonnenwende nähern, versteht
sich fast von selbst. Aber nicht jedes Bild könnte
uns Sinnbild werden.

Es ist darum auch ein altes Bild, vor dem wir uns
versammeln. Dadurch, daß es alt ist, gehört es noch
in einem besonderen Sinne zum ganzen Volke. Denn
ein Volk besteht nicht nur aus den gegenwärtig
Lebenden. Seine Vergangenen sind in ihm lebendig,
es hat eine Geschichte, und wenige Völker haben
trotz allem LTnglück eine so große Geschichte wie
wir. In keinem aber ist die Sprache der Kunst so
überwiegend die eigentlich volkserhaltende Kraft
gewesen. Die Geschichte besteht nicht nur aus Ta-
ten und Leiden, sie besteht erst recht aus den For-
men, in denen wir jeweils dem ewigen Volke Aus-
druck gaben: und wenn wir uns vereinigen, so wol-
len wir uns auch mit unseren Vätern vereinigt
wissen. Unser eigenes Wesen ist gänzlich bestimmt
durch sie, von denen wir abstammen. Vor 450
Jahren hat Dürer unser Weihnachtsbild gemalt.
Vor 430 Jahren aber lebten (durchschnittlich) von
jedem von uns rund 50 000 Vorfahren, wenn wir
Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und so fort zusam-
menrechnen auf die Folge von 14 Geschlechtern.
Hunderte und Tausende von diesen Vorfahren teilt
also jeder von uns mit seinen Volksgenossen, ohne
es noch zu wissen. Das Volk erscheint von hier aus
in einem engeren Sinne als Familie. Unser altes
Weihnachtsbild aber ist auch ein Familienbild.
Es ist drittens nicht von irgendeinem, es ist von
einem der Größten, die es gab. Ein Volk kann sich
immer durch den vom Schicksal begnadeten Einzel-
nen am stärksten ausdrücken. Nur in vorübergehen-
den Zusammenkünften ward es auch durch Mengen
dargestellt. Seine dauernden Sinnbilder schaffen die

•) Der Münchner Rundfunk hat die Einrichtung getroffen, jeden
Monat ein bedeutsames Bild besprechen zu lassen. Als erstes ..Bild
des Monats" kam Dürers „Anbetung des Kindes11 an die Reihe,
über das Geheimrat Prof. Dr. Wilhelm Pinder die beiden hier
abgedruckten Vorträge hielt.

großen Einzelnen. Gerade sie sind Volk! Die Män-
ner, die wir die Großen nennen, sind nicht wie
äußerste Spitzen, die man abbrechen könnte. Sie
sind Mündungen des ganzen Volkes. Sie finden seine
stärksten Klänge, auch wenn sie gleichzeitig vieles
hervorbringen, das niemals allen verständlich sein
kann. Die Melodie des Deutschlandliedes ergreift
uns mit einer so siegreichen Selbstverständlichkeit,
gerade weil sie von einem der größten und erlesen-
sten deutschen Tonkünstler stammt, von dem Lehr-
meister Beethovens, Joseph Haydn. Er konnte uns
eine Hvmne schreiben, nicht obgleich, sondern weil
er zugleich die höchsten Kunstformen beherrschte.
Ebenso findet ein Größter in einer der kunstreich-
sten Zeiten unseres Volkes, Albrecht Dürer, in dem
Münchener Weihnachtsbilde einen Ausdruck, den
noch wir uns bewußt machen können.
Der ursprüngliche Sinn dieses Werkes war gewiß
nicht der, in einem Museum aufbewahrt zu werden.
In keiner großen Zeit war dies der Sinn' von Kunst-
werken: gesammelt und ausgestellt zu sein. Sondern:
eine fromme Familie empfand das Bedürfnis, ein
Altargemälde zu stiften, in dem das Heiligste zu-
gleich verklärt und in vertrauter Nähe erlebt war.
Sie hatte das Glück, dafür einen sehr großen Künst-
ler zu finden. Dieser selbst dachte nicht daran, aus-
gestellt zu werden: er dachte nur daran, sein Bestes
zu geben. Unser Weihnachtsbild ist die Mitte eines
nicht sehr großen Altares. Die Seitenflügel hängen
heute noch daneben. Zwei heilige Ritter sind dar-
gestellt, und man hat früher geglaubt, es handele
sich um eine mit Dürer befreundete Familie: Paurn-
gärtner. Nach ihr nennt man heute noch den Altar.
Es hat sich herausgestellt, daß der Name nicht
eigentlich zutrifft. Um so besser für uns — was nütz-
te uns der Name? Eine unbekannte, aber eine deut-
sche Familie hat den Auftrag gegeben, eine Familie,
deren Nachkommen und Verwandte vielleicht noch
zu vielen Tausenden unter uns leben, ohne dies zu
wissen. Der Auftrag geschah im alten Nürnberg,
wo damals so viele Künstler schufen, größere und
ihrer Sache weit sicherere Künstler, als 'wir heute
besitzen. Denn die innere Sicherheit des großen
Einzelnen hängt nicht von ihm allein ab. Sie hängt
vom Volke ab! Nur ein seiner selber sicheres Volk
bringt ihrer selber sichere Künstler hervor. Unser
Volk war damals einheitlicher als heute, gläubiger
als heute. In jenem weniger zahlreichen Volke
w7aren wir fühlbarer einander verwandt, weniger
auseinandergelebt als heute, wo wir durch bewußten
Entschluß erst und aus der tiefsten Not eine neue
Einheit zu begründen beginnen. Aus jener alten
Zeit, aus dem Geiste eines unserer Größten, kommt
uns das Sinnbild der Weihnacht als einer Familien-

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