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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 56.1940-1941

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Eckstein, Hans: Griechische Form und moderne Plastik, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16489#0343

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B Kunslblbllothek
Staatliche Museen
zu Berlin

Griechische Form und moderne Plastik

Von Hans Eckstein

Die Stille und friedliche Geste moderner Plastik
scheint einer Sehnsucht nach dem Menschen in seiner
Geborgenheit in sich selbst Ausdruck zu geben. Man
ist versucht, darin eine geistige Nähe zur Antike zu
erkennen. Auch formal sind Anklänge an griechi-
sche Formen offensichtlich, wenig-er an Formen der
reifen Klassik als an die der archaischen Vorstufen.
Sehen wir von einer oberflächlich antike Formen
übernehmenden Plastik ab, so werden wir bei der
modernen Plastik von eigentlichem Klassizismus
nicht sprechen dürfen. Demi so offenbar manche
moderne Werke Erinnerungen an die Antike in uns
wachrufen, so wissen wir doch von ihren Schöpfern,
wie fern sie der klassizistischen Anschauung stehen,
die in den antiken Kunstwerken die einzig wahren
Muster der Kunst sali. Ja, es ist in moderner Plastik
von echter künstlerischer Qualität, zu der immer auch
eine Urwüchsigkeit gehört, bei aller Nähe zur Antike
zugleich eine keiner Stildoktrin unterworfene natur-
hafte sinnliche Kraft deutlich, die dem Werk eine
Selbständigkeit der antiken Form gegenüber gibt,
derart, daß diese zwar vernehmlich und beglückend,
aber doch auch nur wie von Ferne durchscheint. Das
an einer solchen modernen Plastik als bedeutend und
als bildnerische Qualität Empfundene ist der un-
mittelbare Ausfluß einer Individualität, die durch
bloße, pedantische oder oberflächliche Nachahmung
eines Musters sich niemals aussprechen könnte, so
wenig wie eine solche Manifestation einer Indivi-
dualität zu kopieren möglich ist. Es wäre also der
oberflächlich richtige Eindruck einer Nähe der mo-
dernen Plastik zu antiker Form wesentlich zu ver-
tiefen, wenn wir diese Beziehung ihrem wirklichen
Charakter nach begreifen wollen.
Wenden wir den Blick zunächst von der Gegenwart
ab. Jahrhunderte abendländischer Geschichte lassen
erkennen, daß die bildnerische Form leiblicher Voll-
kommenheit, die das Hellenentum geschaffen, nie-
mals aufhörte, im europäischen Bewußtsein als aktive
Kraft weiter zu wirken. Nicht nur — können wir
hinzufügen — der Okzident, auch Indien und China
haben zeitweise unter dem Bann der bildnerischen
Form griechischer Menschendarstellung gestanden. —
Von den Nordvölkern wurden die klassischen Formen
übernommen, zunächst (in der sogenannten karolin-
gischen Renaissance) unverstanden und nur als Zei-
chen staatlicher Ordnung und politischer Macht. Dann
aber beginnt in Westeuropa eine intensivere Aus-
einandersetzung mit den antiken Formen und der
Prozeß ihrer Assimilierung, deren Ergebnis der ro-
manische und gotische Stil ist (die plastische Gliede-
rung der Wand gemäß der architektonischen Logik
der Griechen, Gliederung von Säule, Halbsäule, go-
tischem Dienst in Basis, Schaft und Kapitell; Plastik
der Kapitelle aus der Daurade in Toulouse, von Cluny,
der Fassade von Saint-Gilles, Skulpturen von Char-
tres, Noyon, Reims, Bamberg, Naumburg). Nach

1400 unternimmt Norditalien, wo der Stadtstaat
Formen ausbildet, die soziologisch entfernt an die
griechische Polis erinnern, den großartigen Versuch
einer Reinkarnation und Fortsetzung der Antike, der
auf das übrige Westeuropa hinüberwirkt; es beginnt
die Abfolge der westeuropäischen klassischen Stile,
die mit dem Klassizismus endet. Gewiß, die mittel-
alterlichen Formen blühen nicht durchaus aus un-
mittelbarer Berührung mit der Antike auf, sie sind
mannigfach modifiziert durch den andersartigen
Nährboden, dem das klassische Reis aufgepfropft war,
und durch Einwirkungen anderer Bildungen, in denen
antike Formen bereits umgeschmolzen waren. Gleich-
wohl ist die Begegnung mit antiker Form für die Ent-
wicklung der abendländischen Kunst immer die ent-
scheidende geblieben. Vor allem: das abendländische
Existenzgefühl ist an der griechischen Form erwacht.
Das wird nirgends klarer als in der plastischen Ge-
staltung des Menschenbilds; denn sie hat dieBewußt-
werdung des eigenen Seins zur Voraussetzung. Die
griechische Form, wie unmittelbar oder mittelbar
eine Begegnung mit ihr auch statthatte, ist für das
abendländische monumentale Bauen und darstellende
Bilden auch für neue und sehr viel differenziertere
„Inhalte" genau so bestimmend geblieben wie des
Aristoteles logische Kategorien zur intellektualen
Ordnung und Beherrschung auch eines viel reicheren,
komplizierteren Materials abendländischen Denkens.
Darum auch sind Erneuerungen, welcher Art immer,
Kulturumbrüche und der Beginn neuer Entwicklun-
gen stets zusammengegangen mit einem Rückgriff auf
antike Form, mit dem Versuch ihrer Assimilierung
oder ihrer Reinkarnation.

Das Ergebnis aller dieser Assimilierungs- und Rein-
karnationsversuche ist aber nach seinem ganzen We-
sen unantik. Am vollkommensten ist immer nur die
Annäherung von der logischen Seite her gelungen.
Denn die logische Struktur antiker Form, ihr äußeres
Gerüst (Ponderation der Figur, einheitsbezügliche
Abgrenzung der Teile, begriffliche Scheidung von
Körper und Gewand, Richtungsausgleich der Bewe-
gung und dergleichen) läßt sich auch in andere Na-
tionalsprachen übertragen, und die ungeheure Wir-
kung der antiken Form beruht zu einem wesent-
lichen Teil gerade auf diesem ihrem objektiven, ab-
strakten Charakter, der die Übertragbarkeit ihrer
logischen Struktur ermöglicht. Das griechische, Stein
und Menschenbild eingekörperte Wesen aber, die see-
lische Mitte, der die klassische Gestaltenfülle ent-
wachsen, ist der wieder und wieder aufbrechenden
Sehnsucht des christlich-abendländischen Menschen
nach ihr und ihrer Anverwandlung unerreichbar ge-
blieben. Das Griechische ist bei allem Gefühl der
Verwandtschaft und Nahe zugleich etwas sehr Ent-
ferntes, Fremdes, Unzugängliches.
Die Renaissance ist der Antike gewiß nahegekommen.
Die Sänger der Florentiner Tribüne und die Apostel -

Kunst für Alle, Jahrg. 56, Heft 8, Mai 1941 22

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