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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 56.1940-1941

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Eckstein, Hans: Griechische Form und moderne Plastik, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16489#0344

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reliefs des Lucca della Robbia, wohl die „antikischste"
aller Renaissanceplastik, sind mit einer der Antike
entlehnten Formgewalt gestaltet, in ihrer seelisch-gei-
stigen Substanz aber sind sie christlich-abendländisch
bis in die letzte Falte. Die Bildnisse stolzen Herren-
tums in Reims, Bamberg oder Naumburg sind eben-
falls ihrem logisch-formalen Aufbau nach antiken
Formen entlehnt. Ihr Alenschentum aber ist unantik.
Es fehlt diesen Statuen die urtümliche Diesseitigkeit
antiken Menschentums. Derart als einheitlich see-
lisch-körperliches Wesen, als das Alaß der Dinge, wie
der griechische Mensch sich empfand und sich als ver-
leibten Kosmos bildnerisch darzustellen vermochte,
konnte sich der nachantike Mensch nicht empfinden
und versinnbilden. Alle Gestalten, noch die „anti-
kischsten", der westeuropäischen Kunst sind von jener
ungriechischen, christlich - abendländischen Kompli-
ziertheit geprägt, die jedes Sichinnewerden der eige-
nen Existenz beschwert und jedes gestaltete Men-
schenbild wie von dem christlichen Jenseitsempfinden
sichtbar berührt erscheinen läßt.

Was aber gab und gibt, haben wir zu fragen, der
klassischen Form eine solche Macht über Völker und
Generationen, deren Seinsgefühl noch durch ein an-
deres, dem Griechischen Entgegengesetztes, so stark
und so offenbar bestimmt ist? Es ist anderes noch als
der logische Vortrag, der die Wirkung ausübt: es ist
auch und entscheidend das Menschliche, das in der
griechischen Form als repräsentativ anschauliches
Symbol in endgültiger Absolutheit uns entgegen-
tritt. Warum hat es nicht Renaissancen des Ägypti-
schen, des Gotischen, der germanischen Völkerwan-
derungskunst gegeben? Wohl sind Bewegungen her-
vorgetreten, die die antike Form als geborgtes Stil-
gewand abzustreifen bestrebt sind, wie der Expres-
sionismus und die verschiedenen Nuancen der ab-
strakten Kunst. Aber sind diese Tendenzen mehr als
nur kurzlebige Reaktionserscheinungen oder auch
Gesundungsprozesse einer Epoche, die sich vom lee-
ren Formelkram der historisierenden Kunst befreien
will ? Kunsthistorische Forschung, Museen und Publi-
kationen haben dem modernen Künstler alle Kunstwel-
ten der Erde erschlossen; Plastik Ägyptens, Ostasiens,
der Gotik, von Afrika und Südsee haben ihm An-
regungen gegeben, aber doch hat für den abendlän-
dischen Menschen nur die griechische plastische Form
den Charakter des Definitiven und ist nur sie die Ur-
form der in sich geschlossenen, in sich ruhenden leib-
lichen Vollkommenheit. Der moderne Mensch hat für
die Gotik nicht die Verachtung des Humanismus, er
erkennt im Gegenteil ihre hohe Formqualität und
ihre außerordentliche Ausdruckskraft. Aber wenn er
sie mit-wirklichem Verständnis erfaßt, wird ihm auch
bewußt, daß die Gotik keine stabile Formenwelt,
keine Formen von jener endgültigen Absolutheit her-
vorgebracht hat, die der griechischen Plastik die ewige
Gültigkeit geben. Es gehört zu den letztlich unerklär-
baren Dingen, daß der abendländische und im be-
sonderen auch der moderne Mensch dieser Macht der
griechischen Form zwar ausweichen, sie aber nie zu
überwinden und zu vernichten vermochte und ver-
mag.

Von nur sekundärer Bedeutung ist es, in welcher kon-
kreten Besonderheit dem Abendland die griechische

Form jeweils entgegengetreten ist. Nur naives Miß-
verständnis kann die Schwäche des Klassizismus dar-
auf zurückführen, daß Winckelmann und die Künst-
ler um 1800 ihre Sehnsucht nach Nähe der An-
tike nur an überreifen, seelisch oft schon allzu ent-
leerten Könnerstücken später hellenistischer Künstler
und technisch virtuos arbeitender Kopisten hatten be-
friedigen können, daß ihnen die griechischen Origi-
nale, die erst spätere Ausgrabungen zugänglich ge-
macht, noch unbekannt waren. Was stand der Renais-
sance denn anderes vor Augen? Waren es etwa bes-
sere Kopien oder gar griechische Originale, die die
französischen Bildner des 12. und 15. Jahrhunderts
antike Formgewalt verspüren ließen? Es wäre doch
eine groteske Behauptung, unsere moderne Plastik
stände hoch über der des 15. Jahrhunderts und der
Renaissance, weil die modernen Bildhauer nach Athen
und Olympia reisen! Am klassizistischen Versagen
tragen nicht die schwachen antiken Vorbilder die
Schuld, sondern der Mangel an eigener sinnlicher
Kraft und die ästhetische Doktrin, nach der das Ziel
der Kunst die Darstellung der Schönheit ist, die Her-
vorbringung einer höheren Schönheit, als sie die Na-
tur offenbarte. „Nichts würde", schreibt Winckel-
mann, „den Vorzug der Nachahmung der Alten vor
der Nachahmung der Natur deutlicher zeigen kön-
nen, als wenn man zwei junge Leute nähme von gleich
schönem Talente und den einen das Altertum, den
andern die bloße Natur studieren ließe. Dieser würde
die Natur bilden, wie er sie findet: als ein Italiener
würde er Figuren malen, vielleicht wie Caravaggio;
als ein Niederländer, wenn er glücklich ist, wie
Jacob Jordaens; jener würde die Natur bilden, wie
sie es verlangt, und Figuren malen, wie Raffael." —
Wenn er Raffaels Genie hätte! Die bloße Nach-
ahmung aber reproduziert die leere Hülse ohne nicht
nur den griechischen, sondern überhaupt ohne Kern.
Wo aber der Klassizismus glücklich war und Plastik
von Qualität hervorbrachte — ein Schadow! —, da
war immer eine urwüchsige, naturhafte Sinnlichkeit
am Werk und kam die Individualität des Künstlers,
die abendländische, moderne Substanz, am Griechi-
schen gestärkt, zum bildnerischen, an antiker Form
befestigten Ausdruck. Solche Form ist strenger der
antiken angelehnt als die Statuen von Naumburg,
aber ganz ebenso wie diese ist auch sie in ihrem gan-
zen Wesen von gegenwärtiger sinnlicher Fülle und
einer dem Griechischen entgegengesetzten Seelen -
und Gedankenkompliziertheit bestimmt. Schadows
Form und die Naumburger Statuen zerfallen nicht in
eine antikische Schale und einen neuen Kern, sondern
haben jene Einheit der bildnerischen Qualität, die
weder Schale noch Kern hat.

Wenn wir von hier aus, nachdem wir die Macht der
griechischen Form, die Art ihrer Wirkung und die.
Grenzen einer Annäherung an die Antike uns bewußt
zu machen versucht haben, auf die moderne Plastik
blicken und nach ihrem Verhältnis zur klassischen
Form fragen, werden wir den ersten Eindruck einer
geistigen Nähe zur Antike zwar bestätigt finden, aber
das Problem auch in seiner ganzen Kompliziertheit
erfassen. Nicht die äußere Anlehnung an antike For-
men, die Nachahmung der Alten kann entscheidend
sein. Wesentlich aber ist, daß die antiken Formen

(Fortsetzung auf Seite 192)

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