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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 2.1904

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Aus der Correspondenz Vincent van Goghs, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3550#0491

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den Bau des Körpers immer in derselben Weise
zum Ausdruck bringen — oft ganz charmant, was
Proportion und Anatomie anbetrifft ganz korrekt.
Wenn aber Israels oder Daumier oder Lhermitte
z. B. eine Figur zeichnen würden, wird man die
Form der Körper viel mehr empfinden, obwohl
— und deshalb erwähne ich Daumier gern mit —
die Proportionen etwas beinah Willkürliches haben.
Die Anatomie und der Bau der Körper wird in
den Augen der Akademiker nicht immer unbedingt
richtig sein. Aber es wird Leben haben! Und be-
sonders auch bei Delacroix.

nun ja, — wenn Du willst, Lügen, aber wertvoller
als die eigentlichen Werte.

Menschen, die sich in artistisch litterarischen
Kreisen bewegen, wie Raffaelli in Paris, denken dar-
über schliesslich ganz anders als z. B. ich, der ich
draussen auf dem Lande lebe. Ich meine: sie suchen
ein Wort, das alle ihre Ideen zusammenfasst. Er wirft
für die Figuren der Zukunft das Wort „Charakter"
auf. Ich stimme, glaube ich, mit dieser Absicht
überein, aber an die Richtigkeit des Wortes glaube
ich ebensowenig wie an die Richtigkeit anderer
Worte, so wenig wie an die Richtigkeit und das

VINCENT VAN GOGH, LANDSCHAFT.

Ich habe mich noch nicht gut ausgedrückt: sage
Serret, dass ich verzweifelt sein würde, wenn meine
Figuren gut wären; sage ihm, dass, wenn man einen
Grabenden photographiert, er meiner Meinung nach
sicher nicht gräbt; sage ihm, dass ich die Figuren
von Michel Angelo herrlich finde, wenngleich die
Beine entschieden zu lang sind, die Hüften, das
Becken zu breit; sage ihm, dass in meinen Augen
Millet und Lhermitte darum die wahren Maler sind,
weil sie die Dinge nicht so malen wie sie sind,
trocken analysierend nachempfunden, sondern so wie
sie empfinden; sage ihm, es wäre mein sehnlichster
Wunsch, zu erlernen, wie man solche Abweichungen
von der Wirklichkeit, solche Ungenauigkeiten und
Umarbeitungen, die zufällig entstanden sind, macht:

Zweckentsprechende meiner eigenen Ausdrücke.
Anstatt zu sagen: es muss Charakter in einem gra-
benden Mann liegen, umschreibe ich es, indem ich
sage, der Bauer muss ein Bauer sein, der Grabende
muss graben, und damit ist etwas darin, das wesent-
lich modern ist. Aber ich fühle es selbst, dass man
aus diesem Wort Schlüsse ziehen kann, die ich nicht
beabsichtigt habe.

Die „Bauerngestalt in ihrer Arbeit" zu geben,
siehst Du, das ist (ich wiederhole es) das eigentlich
Moderne, das Herz der modernen Kunst, das, was
weder die Renaissance noch die alte holländische
Schule noch die Griechen gethan haben.

Mit der Bauern- und der Arbeiterfigur hat
man als „Genre" begonnen — aber augenblicklich

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