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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 15.1935

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Heft 9 (September 1935)
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Koelitz, Hanna: Kostümkunde, [2]: ein Spiegel der Stilwandlungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.28171#0207

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Das Aufwärtsstreben wird durch einen langcn, faltigen
Rock ;um Ausdruck gcbracht: In den mächtigcn Faltcn der
Stoffmaffen, mit dcnen der Rock dcm Bodcn aufliegt, ist
dic Basis geschaffen, dic das schlanke Aufwärtsstreben des
Dberkorpers stnnvoll macht. Auch dcr schlanke Durm der
gotischen Rathedrale erhebt stch Uber den breit ausladen.
den, dicht gebautcn und wuchtigcn Grundmauern. Ein
Aufwärtsstreben von eincr schmalcn Basis hat kcinen
Sinn: die schmalen islamischen Minaretts wirkcn zierlich,
abcr sie haben nicht dcn Zauber, der den Blick empor-
rcißt, weil sie nicht den breiten Anfang habcn, das Stau-
becken, das den Blick ansaugt, um ihn nach oben ;u schleu-
dern. Die Stoffmassen des Rocks licgen dem Bodcn so
weit auf, daß ein Ausschreiten überhaupt nur möglich ist,
wcnn der Rock mit der Hand gcrafft wird: ein neuer
Grund für aufwärtsstrebende Faltcngruppen. Zum ersten
Male tritt dic Schlcppe in Erscheinung — das Swen>
;elin — die wie dic Daille eine Erfindung dcr Gotik ist
und den schrägcn iibcrgang vom wagrechten Erdboden ;um
senkrcchten Mcnschcnkörper darstellt. Die klar trcnnende
Antike kannte als Äußerstes den Rocksaum, der knapp
bis;um Boden reicht.

Der Rock, der oft mit der Taille ;usammen geschnitten
wird, setzt, wo er selbständig ist, nicht gleichmäßig an der
HUfte an: das gäbe wicder eine ;u auffällige Guerteilung.
Das Mieder wird oft vorn sehr weit herunterge;ogen uno
der Rock setzt in einer geschwungenen Linie an, die spitz-
bogenartig wirkt.

Manchmal werden aus dcn Manschetten schmale Dän-
der, die bis ;um Boden reichen und ein neues auf-
wärtsweisendes Motiv ergeben. Diese Bänder werden
unten mit einem Stein beschwert, damit sie besser hän.
gen und bilden so gleich;eitig eine nicht ungesährliche
waffe.

Besonders ;um Ausdruck kommt das Aufwärtsstreben
durch den Mantel, der mehr ein Lape im heutigcn Sinn
ist. Er hat einen halbkreissörmigen oder glockigen Schnitt,
liegt fest auf den Schultern auf und wird meist durch einc
Schnur, die -Uber die Lrust läuft — die Tassel — fester
oder loser gehängt. Er fällt von der Schulter glatt herab
Ln schweren Fälten, die sich nach unten ;u vertiefcn, und
wirkt so fast wie ein gotisches Säulenbündel. Der Stoff
ist sehr dick, dadurch stehen die Falten ;iemlich -steif und
röhrenförmig und verbergen die Figur fast gan;. Die
irdische VkatUrlichkeit des engen Gewands ist unter die-
sem Mantel fast bis ;ur Unkenntlichkeit verdeckt. So wird
der Mensch ein lebendiger pfeiler und ein wandelndes
Motiv des Aufwärtsstrebens. . .

Der Sammelpunkt des öffentlichen Lebens — im Ba<
rock das Schloß, in der Renaiffance Bürger- und Rat-
haus — ist in der gotischen Zeit der Dom:.Der gotische
Menfch hat als Hintergrund das strenge Aufwärtsstreben
der kirchlichen Architektur. Diese Zusammengehörigkeit
geht so weit, daß der gotische Bildhauer seine plastischen
Figuren in die Architektur hineinstellt und sie unlösbar
mit ihr verbindet: Es gibt, streng genommen, keine
gotische Freiplastik, und jede gotische Fjgur verliert ihren
Zaüber vor der leeren und totcn wand der Musern.
Auch dic gotische Rleidung muß srch in das Aufwärts-
streben der GäulenbUndel einfügen. Aber sie hat nicht nur .
diese eine Aufgäbe des äufgelösten Emporstrebens. Ebenso
wichtig ist, daß sie sich in dem lebendigen wald der Rathe-
dralen, in dem Gleichklang win;iger Säulchen, als pla-
stifche Figur behaupten kann: Sie muß stch von dcn ge-
radcn Säulrn, pfeilcrn und Diensten deutlich als etwas
Andcres abbeben. Aus dicser Forderung ergibt sich die
lrise Bewegung, die die gotischc Figur auszcichnct. "" ''
der klaren maßvoven Rechtwinkelbewcgung dc
wirkt die gotische Dcwcgung fast ebenso klein i
dem barocken Lüsünanderrrißen bet .

Die Bewegung darf auch nur gcring sein: Sie darf
nicht von dcr Grundbcwegung ablenken, sondern muß sich,
als ncuer Anrci;, in das Aufwärtsstreben einschalten. Gn
diesen engen Gren;en ;eigt das gotische Gewand eine FUllc
von Variantcn. Dic Figuren des Naumburger Doms
;cigen, wicviel Möglichkeiten an Bewegung und Falten-
bildung schon der Mantcl enthält, je nachdcm wie man
ihn trägt: ob man ihn hcrunterhängen läßt oder ihn an
der Tasscl ;usammcn;ieht, ob man ihn seitlich oder untcn
hochnimmt, ob man ihn mit der Hand ;usammenhält oder
offcn läßt.

Dcr gotischc Stoff unterstützt diese Art bcr Bewegung.
Er ist so weich, daß er ftch in gan;e SäulenbUndel von
Falten auflöst, und dabei so schwcr, daß cr nur dem ;u-
faffenden Griff der Hand gehorcht und seinem eigenen
Gewicht, das ihn nach unten ;ieht. So ergeben sich eine
FUlle klarer Falten, die eindeutig nach einer Richtung
laufen: Nebcn den einfachen, säulenförmigen Längsfaltcn
gibt es vielfach schräg — aber in einer Richtung laufendc
Faltcn. Die großen hochgenommenen StoffstUcke fallen in
einem wahren wafferfall von Falten herunter. Nirgends
zeigen sich unerwünschte Guerfaltcn oder FaltenbrUche —
da;u ist der Stoff nicht starr genug, nirgends schmiegt
sich der Stoff unbeabsichtigt dem Rörper an — da;u ift
er nicht dünn genug. Neben der Schmiegsamkcit der
griechischen Stoffe, neben dcr Härte der römischen und
der Starre der romanischen steht die weiche Schwere der
gotischen Stoffe.

Meist sind es schwere wollstoffe. Auch schweres Leinen
wird viel getragen. Der Mantel ist stets aus dicker, ein-
farbiger wolle, er ist fast imiper gesüttert. Mit Vorliebe
wird pel; ;um Futter genommen und der pel; erhöht
die charakteristischen Eigenschaften: Auch er ist schwer und
weich. wichtig ist die Dualität des Stoffs: Die erforderte
weichheit verlangt gutes Material. Der beste wollstoff
heißt Scharlach, der beste Scharlach kommt aus Gent.
Auch die beste Scidc wird mit einem eigenen Namen aus-
gezeichnet: Purpur — wie Scharlach keine Farb- sondern
eine Gualitätsbc;eichnung.

Die anliegenden Unterkleider ;eigen bisweilen kostbare
Brokate, gemusterte Sammete. Bei den Mustern handelt
es sich im Gegensatz ;ur Romanik um durchgemusterte
Stoffe, also um fortlaufende Muster — damals kommt
der Zeugdruck auf, der ;um Hol;schnitt führt — nie um
Ein;elmuster. Schon eine besonders betonte Rante, und
noch viel mehr ein ausgeprägtes Muster, würde das
Auge zu fehr von der geforderten Aufwärtsbewegung
ablenken. - ---

Die Tatsache, daß nun dic Rleider kompli;ierte Schnitte
brauchen und „sitzen" müssen, hat zur Folge, daß es vom
jr. Iahrhundert ab —zuerst in Deutschland — berüfs-
mäßige Schncider und eine Schneiderkunst gibt. jier
schreibt Heinrich der Löwe den ersten Gildenbrief. Vor,
her hatte die Frau felber, die FLrstin ebenso wie die
Bäuerin, allc Rleider angefertigt: Rriemhild arbeitetc
mit ;s Mädchen 7 wochcn lang an der Ausstattung für
ihre Bruder und deren Gefolge. - l



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