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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 4.1869

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staltet werdeu, liegt dieses Feld, besonders iu der lctzteu
Zeit, hier zu Lande fast völlig brach, was übrigeus bei
dern Mangel an geschichtlichem Sinne in der inodernen
russischcn Gesellschaft nurnatnrlich ist. Einerweitgrößeren
Gunst sowohl bei den Künstlern als beim Publikum er-
freut sich die Landschaft, am beliebtesten aber ist das
Genre. Charakteristisch für die russischen Genrebilder im
Großen und Ganzen ist es, daß sie entweder die nackte
Wirklichkeit mit photographischer Treue kopiren, oder
daß eine trübe, düstere Stimmung in ihnen waltet: Bei-
des Momente, dic wir in ganz ähnlicher Weise in der
russischen Belletristik wiederfinden. Zerrüttete Familien-
verhältnisse, ungleiche Ehen, verfehlter Lebensberuf, das
sind Lieblingsgegenstände künstlerischer Darstellung, die
bei den alljährlichen Ausstellungen in den mannigfaltigsten
Variationen wiederkehren. Vor einigen Jahren zog ein
allerdings von Talent zeugendes Gemälde: die Trauung
eines verlebten vornehmen Mannes mit einem jugendlich
schönen Mädchen, dem der tiefste Gram aus dem ver-
weinten Gesichte blickt, die allgemeine Aufmerksamkeit auf
sich. Jm vorigen Jahre zeigte eines der am allgemeinsten
bewunderten Bilder die soeben aus dem Wasser gezogene
Leiche eines jungen Mädchens, offenbar eines jener un-
glücklichen Opfer des Leicktsinnes und trauriger socialer
Verhältnisse.

Auch die diesjährige Ausstellung entbehrte dergleichen
trübe Bilder nicht. Schurawlew hatte eine „Heimfahrt
vom Balle" geliefert. Wir blicken in das Jnnere eines
eleganten Wagens. Eine junge Frau in ausgesuchter
Balltoilette sitzt, in schmerzlich süße Erinerungen ver-
sunken, da; neben ihr ist der Gemahl, ebenfalls im ele-
gantesten Anzuge, zu welchem das rohe, widerwärtige
Gesicht im unangenehmen Kontraste steht, in Folge des
übermäßig gcnossenen Weines eingeschafen. Das Liebes-
weh, das aus dem sympathischen Gesichte derUnglücklichen
spricht, gilt offenbar nicht diesem Manne. Kurz wir sehen
die ganze Missre einer unglücklichen Ehe vor uns. Das
Bildchen ist nicht schlecht; wenn aber das Pnblikum vor
demselben stets in dichter Menge sich versammelte, so ist
dies hauptsächlich dem so beliebten Sujet zuzuschreiben.
Hierher gehört auch ein anderes Stück desselben Künstlers:
ein Bauer, der als Lohnfuhrmann in der Stadt sein Brot
verdient, kehrt in's Dorf zurück und findet, — daß sein
Weib ihm nntreu geworden. Von Gram und Wuth er-
grissen, bedroht er die Unglückliche, die voller Angst und
SchamzuBoden sieht. — Ein andererKünstler, Lemock,
führte uns unter dem Namen „Familienunglück" eine
trübe Scene vor Augen. Jn einem ärmlichen Stübchen
liegt hinter einem Strohschirine der todtkranke Gatte.
Auf einem abgerissenen Sopha sitzt das unglückliche Weib
des Dahinscheidenden in tiefstcr Berzweiflung da; neben
ihr die Mutter, die einem solchen Unglück gegenüber keine
Trostgründc findet. Dic Situation ist ganz klar bezeichnet.

obgleich mau den Sterbendcn selbst nicht sieht, sondern nur
das Fußende des Bettes. — Ohne Selbstmord ist es
natürlich auch dieses Jahr nicht abgegangen. Hier wirst
sick ein junges Mädchen von hoher Brücke in den Strom,
dort ist soeben in einem Dorfe ein Todter aus dem Flusse
gezogen worden, u. s. w.

Vergeblich suchte das Auge des Beschauers nach hei-
teren Gegenstücken zu diesen und ähnlichen trüben Darstel-
lungen. Ein wahrhaft heiteres Gemälde fand sich nicht,
es sei denn Korsuchin's „Nückkehr vom Jahrmarkte;"
hier aber ist die Heiterkeit oder vielmehr ausgelassene
Lustigkeit der drei Bauern, die sich so freundschaftlich um-
faßt halten, durch den trunkenen Zustand der Betheiligten
motivirt. Dieses Bild war jedenfalls eines der gelungen-
sten Genrebilder der diesjährigen Ausstellung. Es ist frei
von jenem widerwärtigen Cynismus, mit welchem die
Trunkenheit gewöhnlich von hiesigen Malern dargestellt
wird.

Perow, dessen realistische Genrebilder ausdem russi-
schen Leben sich in den letzten Jahren eine bedentende
Popularität erworben haben und bis nach Paris wan-
derten, hatte auch dieses Mal ein paar Stücke ausgestellt,
von denen das eine einen recht charakteristischcnMoment
aus dem Bauernleben schildert: an einem Schlagbaume,
der einen die Schienen einer Eisenbahn schneidenden
Dorfweg abschließt, steht eine Gruppe von Bauern und
Bäuerinneu. Mit Staunen sehen sie die Lokomotive
heranbrausen. Es ist dem Künstler nicht übel gelungen,
den verschiedenen Eiudruck wiederzugeben, den das biSher
noch nicht erlebte Ereigniß auf die Landleute macht. Da
ist ein alter Bauer, der starr vor Verwunderung drein-
schaut; ein anderer lacht herzlich über den Besen, der vorne
an der Lokomotive angebracht ist, um den Schnee von den
Schienen zu fegen; ein dritter sieht sich die Sache mit
größerem Ernst an und scheint seine Betrachtungen über
den Hergang anzustellen.

Ein kleines Mld, welchcm der Jnhalt Jnteresse ver-
leiht, ist dasjenige von Schurygin, welches der Katalog
als: „Zeitgenössische Jdealisten" bezeichnete. Es ist eine
Satire auf jene jämmerliche Richtung in der modernen
rusiiscken Gesellschaft, die man als Nihilismus zu be-
zeichnen pflegt: in einer Stube, die von der unerciuick-
lichsten Lüderlichkeit ihrer Bewohner zeugt — Bücher,
Wein- und Bierflaschen, alles liegt durcheinander —> liest
ein junger Mann, in dem noch vor Kurzem so beliebten
„jungrussischen" Nationalkostüm, mit rohem und zugleich
sanatischem Ausdruck und geballter Faust irgend einen,
wahrscheinlich in die belreffende Nichtung schlagenden
Aufsatz vor. An ihn lehnt sich ein junges Mädchen mit
kurz geschnittenemHaar, einer blauen Brille, eine Papier-
cigarette im Munde, der echte Typus einer „Nihili-
stin". Der Dritte im Bunde sitzt, den Hut auf dem
Kcpfe, reitlings auf einem Stuhle. Die gsistige Ät-
 
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