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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 7.1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.4814#0105

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Korresvonden;en.

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k>enn es nicht den zehnten Theil so meisterhaft ausgeführt
>väre, wie das angezogene, unendlich viel abgerundeter,
allseitig befriegender, genußreicher, als alle wildernden
Shakespeare's, die jemals gemalt sind oder noch gemalt
werden können, zusammengenommen.

Es ist durch zahlreiche Thatsachen zu klar erwiesen, daß
das genaue Studium auch der Details ihreS rein mensch-
lichen Daseins zum Verständniß des Wesentlichen in den
Zroßen Geistern beitragen kann und beiträgt, als daß
Man der geschichtlichen Forschung einen Vorwurf darans
uiacheu könnte, wenn sie in der Begeisterung für ihrcn
Helden auch das Unbedeutendste uicht für zu gering hält.
Aber daraus muß nicht die Bercchtigung einer Geschichts-
jchreibung aus der Kammerdicnerpcrspcctive ü Mühl-
bach abgelcitet werden, die in geschwätziger Kleinlichkeit den
blnfähigen die Geistesheroen faßbar, den Verstehenden
aber ekelhaft macht; und sehr weit ab liegt davon die
Anekdotenmalerei nicht.

3ch habe vor einem bedeutenden Werke dieser Gat-
lung, bei dem noch genug Veranlassung zu ehrcnder An-
^vkennung bleibt, einmal wieder auf diese uaheliegendeu
l8ede»keu hinweisen wollen. Es versteht sich, daß durch
bas hicr Gesagte nicht alle kleinen Nebenzüge im Leben
großer Leute von der Darstellung ausgeschlossen sein
svllen — von der illustrativen sind es ohnedies selbst die
uebensächlichsteu nicht —, sonderu nur diejenigen, welche
nicht charakteristisch, vielmehr rein accidentell sind. Es
jei niir gestattet, anf zwei bekannte Gemälde Boning-
ton's zur Erläuterung des Unterschiedes hinzuweiseu:
Franz I., der seiner Schwester Margarethe von Navarra
jene für das zarte Geschlecht nicht eben schmcichelhaften
Verse zeigt, die er in die Fensterscheibe geritzt: „souveiit
lewine vurie; bien kol 68t czni s'v üo'': — das ist der
Anlante König, wie er leibt und lebt; — nnd dagegen
Heinrich IV., den spanischeu Gesandten in der Kindcr-
stube empfangend: — das erinnert höchstens an die
Takt, Geschmack- und Charaktcrlosigkeiten, von denen
auch dieser beste Regent Frankreichs nichts weniger als
srei war. Man kann doch cin vortrefflicher Gattc und
^ater und ein noch viel besserer König sein, ohne mit ein
Paar Kindern auf dem Rücken auf allen Vieren umher-
Dkriechen nnd gar in dieser Situation Audienzen zu er-
theilen.

Der junge Wilddieb Shakespeare scheint mir zu der
Zweiten Gattung zu gehöreu; und ich möchte behauptcn,
baß sich der eigentliche Witz dcs Borganges gar nicht
vecht malen läßt. Wer die Geschichte nicht kennte, der
würde sie sich nach dem Bilde etwa so zusammenlesen:
Der junge Dichter — wohl gar von Noth gedrängt —
hat das Jagdrecht verletzt und steht nun moralisch ver-
nichtet vor scincm Richter. Dieser aber, ein alter jo-
vialer Herr von empfänglichem Sinn für das Große nnd
Schöne, redet ihm etwa so ein: „Ei, ei, lieber Nachbar!

Das sind ja nette Streiche! Aber sintemal Jhr ein so gar
treffticher Poet seid, daß die Welt Euch noch nach vielen
Jahrhunderten verstehen zu lernen suchen und bewundern
wird, wenn von mir die Leute wahrschcinlich höchstens
noch diese Viertelstunde meines Lebens interessirt, so
werde ich einmal fünf gerade sein lassen und tüchtig
durch die Finger sehen!" So aber sprach der edle Herr
nicht und konnte er gar nicht sprechen. Denn der junge
Manu da soll gegen jenen alten malitiösen Menschen,
der ihn bis auf's Blut gepeinigt, verfolgt und aus seiner
Vatcrstadt vertrieben haben soll, scine erstcn Vcrse gc-
schleudert haben! Freilich früher geübte Chikanen und
später zu schreibende Bcrse lassen sich nicht maleu; daher
ist der — der qmwi Geschichte gegenüber — verfehlte
Ein- und Ausdruck des Bildes natürlich, und das bloßc
Lebensbild, das übrig bleibt, koniint auch nicht rechk in
sein richtiges Geschick.

Diese Erwäguugen, oder viclmehr dicse Dinge,
über dcren Vorhandcnsein und Natur ich mir durch diesc
Erwägungen Rechenscliaft gegebcn habe, trcten der schla-
gendcn Wirkung des crsten Anblicks hindernd in den
Wcg. Dennoch aber niacht sich je mehr uud mehr die
Darstellungskunst in ibrer Borzüglichkeit geltend, und
man fühlt sich gezwuugcn, dem ausführenden Künstler das
Lob voll auszuzahlen, das man dem crfindenden in etwas
vorzuenthalten sich berechtigt weiß. Der juuge Dichtcr
sclbst scheint mir recht gelungen; dcr Waldhüter, dcr ihn
herbeiführt, mit dem riesigen Welsmaul und überhaupt von
gröbstcr Häßlichkeit, versöhnt durch eiu zwar natürlich grin-
sendes Lachen, dem aber eine gewisse Gutmüthigkeit ab-
zumerken ist. Am interessantesten und behagendsten ist
wohl der alte Richtcr in seinem Lehnstuhl ausgefallcn.
Auch die Nebenfiguren habcn mehr als bloßc Statistcn-
rollen zugewiesen bekominen nnd sind demgemäß ans-
gerüstet worden. Der Raum ist mit allcn möglichen An-
ziehungen, erkerartigen Ausbauten, buntcn Fenstcrn,
„Urväter Hausrath" u. s. w. rcichlich versehen, doch nicht
überreichlich, so daß die Scenerie sich nicht vordrängt.
Die farbige Gesammthaltung, in der cnergiscbere „Va-
leurs" sich geltendmachen, alsin desKünstlers Philippinc
Welserin, hat wiedcrum jene unumflorte Klarheit, die
zwar dem Berstande Genüge thut, aber der Empfindung
nnr weuig bietet. Sie scheint außerdem für diescn
Jnnenraum zu hell gegriffeu; doch ist sie in sich harmo-
nisch und erreicht eine kräftige Wirkung.

Wie vortheilhaft aber gerade eine wärmcrc Fär-
bung, ein Helldunkelton für die malerische Wirknng, für
die Erregung einer angenehmen Stimmung jst, konnte man

rechtan einergleichzeitig(undnoch)ausgestelltennichtgroßen

Gerichtsscene von Hermann ten Kate erkennen, die
auch für das anfaugs erörtcrte Verhältniß von schlichtem
Lebensbild und historischeui Genre ein lehrreiches Bei-
spiel abgab.
 
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