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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

DOI issue:
Heft 14 (2. Aprilheft 1907)
DOI article:
Göhler, Georg: Das Kaiserliche Volks-Liederbuch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0094

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dem Bedürfnis abzuhelfen, das er vorhanden glaubte. Auch darauf
mußte negativ geantwortet werden, denn Volksliedersammlungen haben
die deutschen Männergesang-Vereine in Menge. Nach dem ganzen
Zusammenhange, in dem die kaiserliche Ankündigung erfolgte, mußte
man annehmen, daß eine neue, bedeutende Leistung nicht zu er-
warten wäre.

Nun geschah aber das bei „ofsiziellen Bemühungen" um die
Kunst leider Seltene und Aberraschende, daß zur Verwirklichung des
Gedankens die fähigsten Köpse gefunden wurden, und daß die
intensive Arbeit dieser Köpfe tatsächlich etwas schuf, über das man
im ernsthastesten Tone reden kann und muß.

„Das Volksliederbuch für Männerchöre, herausgegeben auf Ver-
anlassung Seiner Majestät des Deutschen Kaisers Wilhelm II/, das
vor einigen Wochen im Verlage von C. F. Peters in Leipzig er--
schienen ist, muß als eine ganz außergewöhnlich bedeutende Leistung
anerkannt werden. Diese Bedeutung hat es der Tatsache zu danken,
daß drei der ersten Fachmänner der Wissenschaft — Rochus von
Liliencron, Hermann Kretzschmar und Max Friedlaender, dieser als
der unermüdliche Haupt-Arbeiter an dem Werke, sür den literarischen
Teil unterstützt von Iohannes Bolte — sich mit den bekanntesten
praktischen Musikern zu gemeinsamer Tätigkeit verbanden. Nnd es
muß festgestellt werden: das, was diese Sammlung von 6sO Chören'
über alle ähnlichen Werke hinaushebt, haben nicht die praktischen
Musiker, sondern die Männer der Wissenschaft geleistet.

Diese so ost verspotteten, von den selbstgenügsamen Herren des
Allgemeinen Deutschen Musik-Vereins und allerhand großmündigen
Pressegigerls so mitleidig als Musiker siebenten Grades verachteten,
unmodernen Arbeiter! Sie haben aus den Schatzkammern der Musik-
geschichte, in denen sich freilich die Sucher blanken Gegenwartssoldes
in bar für ihre moderne Musik aus Angst vor der Konkurrenz der
besseren Alten nicht wohl oder gar heimisch fühlen, das Material
herausgeholt, das nun die schönsten Räume in der neuen Samm-
lung süllt.

Was die Bearbeiter, die praktischen Musiker geleistet haben,
fällt daneben nicht ins Gewicht. Es gab bereits seit langem eine
Menge gutgesetzter Volkslieder für Männerchor, und daß der Satz,
den die neue Sammlung bringt, immer der absolut beste ist, dürfte
sich kaum beweisen lassen, obwohl durch die gewissenhafte Kritik der
Kommission ja sehr gesichtet und gebessert worden ist. Ich betone
nur: Etwas Außergewöhnliches ist der gute Satz der bekannten Volks-
lieder nicht. Etwas Außergewöhnliches aber ist die Fülle ganz neuen,
dem MLnnergesang bisher noch nicht zugänglich gemachten Mate-
rials. And das herbeigeschafst, dessen Verwertung erzwungen zu
haben, ist das Verdienst der Musikwissenschaft.

Streiten ließe sich über den Abdruck verschiedener Gesänge neuerer
Komponisten, über die Zweckmäßigkeit der Aufnahme bekannter Chöre
von Mendelssohn, Schumann usw. Zwar wollte die Kommission kein
Volkslieder-Buch, sondern ein Volks-Liederbuch, ein Liederbuch fürs
Volk schasfen; aber sobald man einmal den Ansang mit der Auf-
nahme von Kunstliedern macht, ist Rngerechtigkeit bei der Auswahl

2. Aprilheft 1907 ?t
 
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