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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

DOI issue:
Heft 14 (2. Aprilheft 1907)
DOI article:
Göhler, Georg: Das Kaiserliche Volks-Liederbuch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0095

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kaurn zu vermeiden. Ganz abgesehen davon, daß Werke wie die
von Mendelssohn, Schumann usw. doch meist schon im Besitz der
Gesang-Vereine sind. Ietzt muß aber eigentlich jeder Männer-Ge-
sang-Verein sich diese Kaiserliche Sammlung anschafsen, die viel-
leicht an Brauchbarkeit gewonnen hätte, wenn sie sich wirklich aufs
Volkslied beschränkt HLtte.

Vielleicht beachtet man diese Einwände, wenn dem Volkslieder-
buch für Männerchor eins für gemischten Chor folgt. Denn, was
ich stets gegenüber der vom Kaiser beliebten Protektion des allerdings
nebenbei patriotisch verwendbaren Männergesangs betont habe: Wich-
tiger als all das schon an sich übel wuchernde Männerchorsingen ist
Förderung des deutschen gemischten Chor-Gesangs. Aus ihm ent-
sprangen einst die Quellen der Kraft der deutschen Musik. Ihre
ganze Hochkultur — im besten Sinne! — im s6. Iahrhundert beruhte
aus ihm, und alle große Kunst von Schütz über Bach und Händel
bis zu Beethoven ist undenkbar ohne ihn. Lassen wir ihn verküm-
mern, so lassen wir unser Volk immer mehr vom lebendigen Helser
am Werke der Kunst zu einem blasierten Betrachter werden, der sich
sür sein Geld was vormachen läßt. Das deutsche Haus, die deutsche
Geselligkeit, die deutsche Kunst brauchen diesen Chorgesang, der auch
an künstlerischem Gesamtwert turmhoch über dem MLnnersingen der
guten und schlechten Liedertafeln steht.

Wird der Kaiser darauf hingewiesen werden, daß dem gemischten
Chorgesang Förderer zu sein ein viel größerer Ehrentitel ist, als
MLnnerwettsingen zu veranstalten?

Vielleicht findet sich dann auch jemand, der ihm berichtet, was
die deutschen Komponisten mit dem Volksliederbuch gemacht haben.
Stolz und kühn wird ein Rundschreiben versandt, in dem es heißt,
daß mit diesem „Geschenk" an das deutsche Volk materielle Zwecke
irgendwelcher Art nicht verbunden seien, und daß ein etwaiger Rein-
ertrag durch das preußische Kultusministerium zu wohltätigen Zwecken
verwendet werden würde. Aber trotzdem verlangen die zur Genossen-
schast deutscher Tonsetzer gehörigen deutschen Komponisten sür jede
Ausführung jeder einzelnen Bearbeitung Tantiemen.

Ich habe hier oft genug gesagt, wohin diese Ausbildung des
Geschäftssinns führen wird. Daß die deutschen Tonsetzer nichts darin
finden, ihn auch bei diesem „Geschenk an das deutsche Volk" skrupellos
zu betätigen und sich für ihre Bearbeitungen nationalen Gemein-
gutes Steuergroschen bezahlen zu lassen, HLtte ich aber trotzdem nicht
für möglich gehalten. Ietzt verdient Herr Professor Wolfrum Tan-
tiemen, weil er „Lin feste Burg" für Männerchor gesetzt hat, und
Herr Professor Berger, weil er dem alten Kommerslied „Bekränzt
mit Laub« drei neue Unterstimmen angezogen hat. Ich möchte wissen,
was unsre alten Herren Beethoven, Schubert, Mozart, Liszt in ihrem
Himmel sagen, wenn sie diese neue Form deutschen Idealismus blühen
sehen. Aber in den Himmel hinauf wächst der Idealismus ja nicht,
und so sind wenigstens sie sicher vor ihm!

Altenburg GeorgGöhler

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