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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 24 (2. Septemberheft 1907)
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Kalkschmidt, Eugen: Erinnerungen
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Batka, Richard: Vom Wechsel der Stimmung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0772

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die energischen Rufzeichen am Rande des Programms. Anser Mühl-
heimer Freund war osfenbar der Äberzeugung» daß man aus der
Stimmung der ernsten Gesänge und ihrer Todes- und Ewigkeits-
gedanken schicklicherweise nur sehr allmählich in die menschliche, allzu
menschliche Laune der Kneipe und des Tanzvergnügens zurückgelangen
dürfe. i ^ ! K,W

Allein, so achtbar und würdig die Gesinnung ist, die aus einer
solchen Auffassung des Gefühlswechsels spricht, so möchte ich doch
einiges ganz allgemein vorbringen, was die guten Mühlheimer ent-
lastet und das Psychologische des Vorgangs einigermaßen aufklärt.
Aus der grauen Vorzeit des Menschengeschlechts kommt mir da gleich
ein Totenlied des altindischen Veda in den Sinn. In dem heißt
es: „Wir aber gehn hinweg vom offenen Grabe wiederum zu Tanz
und Scherz." Vnd da fallen mir auch gleich unsre Militärkapellen
ein, die, wenn sie bei einer feierlichen Bestattung sich ihrer offiziellen
Trauermärsche entledigt haben, nun mit klingendem Spiel unter fröh-
lichen Weisen heim ins Quartier rücken. Ich denke ferner an die auf
dem Lande noch vielfach herrschende Sitte des Leichenschmauses, die
den Städtern als barbarisch erscheint und doch ein sicheres Mittel ist,
die Leidtragenden zu beschäftigen, von ihrer Trauer abzulenken und
ihnen so über die ersten trüben Stunden nach der Heimkehr vom
Friedhof hinwegzuhelfen. Zugegeben, daß das eine „Roßkur" ist,
wie sie feinnervige Menschen nicht vertragen. Aber bei dem aus
derbem Holze geschnitzten Landvolke hat sie sich in jahrhundertlanger
Erfahrung als eine wohltätige Sitte vortrefflich bewährt.

Es scheint eine Selbsthilfe der menschlichen Natur zu geben,
derart, daß sie am Sättigungspunkt eines seelischen Schmerzgefühls
angelangt, mit kräftiger Lebensbejahung jäh und rasch in eine zu-
nächst vielleicht etwas krampfhafte Lustigkeit umspringt, um sich da-
durch gründlich von den lebensfeindlichen Stimmungen zu befreien.
Wie vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ift, so halten
Weinen und Lachen unter einfachen Verhältnissen gute Nachbarschaft.

Aber man weiß auch, daß selbst ein Richard Wagner nach
irgend einer weihevollen Kunsttat die gehobene Nachstimmung gern
mit dem geflügelten Ausruf abschnitt: „Nun aber kein vernünftiges
Wort mehr!" Die erlösende Wirkung eines solchen plötzlichen Aber-
ganges macht sich denn auch die Kunst zunutze. Die Griechen er-
holten sich von den Eindrücken einer erschütternden Tragödie bei
einem sich anschließenden übermütigen Satyrspiel. Unsre Sympho-
niker, die uns mit dem Adagio eben noch Tränen entlockten, wischen
sie uns unmittelbar darauf unter dem fröhlichen Gekicher des Scherzo
wieder weg. Dieses Nebeneinander der Gegensätze entstammt der
alten Suite, dieser volkstümlichen, unter den Spielleuten aufgekom-
menen Kunstform. Aber während bei urwüchsigen Naturen der Am-
schlag der Grundstimmungen sich noch immer schroff und schnell zu
vollziehen pflegt, können wir eine Tendenz der modernen Seele wahr-
nehmen, das Angreifende solcher inneren Wetterstürze dadurch zu
mildern, daß an Stelle der raschen Krisis ein langsamer Heilungs-
oder Beruhigungsvorgang tritt. Schon die Sonatenform scheint aus
dem Bestreben hervorgegangen zu sein, die Gegensätze nicht in ge-



2. Septemberheft G07

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