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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 24 (2. Septemberheft 1907)
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Kalkschmidt, Eugen: Erinnerungen
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Batka, Richard: Vom Wechsel der Stimmung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0773

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schlossenen Blocks aneinanderzureihen, sondern in kleineren, enger
zusarnrnengerückten und besser vermittelten Gruppen zu verwenden,
wie denn bei Mozart das zweite Thema zum ersten nicht als Oppo-
sition, sondern als seine ausgleichende Ergänzung sich verhält, das
Hauptthema seinen natürlichen Gegensatz fast unwillkürlich, mehr als
Seiten- denn als Gegenthema auslöst. Die vorzügliche Möglich-
keit der einsätzigen symphonischen Dichtung vor der mehr-
sätzigen, die Empfindungswelt des Komponisten noch ziemlich roh in
Allegro, Adagio und Scherzo einschachtelnden Symphonie liegt darin,
daß hier der Kreis der verschiedensten Empfindungen in wohlvor-
bereiteten Äberleitungen durchmessen wird. Die Form der Symphonie
ist volkstümlich; die der symphonischen Dichtung eine artistische Form,
und man darf überhaupt in der psychologifchen Entwicklung, Ver-
mittlung und Begründung, in der vergeiftigten Tonform das
Wefen der musikalischen Modernität erblicken. Darüber hat sich
Richard Wagner einmal sehr lichtvoll in einem Briefe an Frau
Wesendonk ausgesprochen. „In meiner Natur liegt es ursprünglich,
schnell und stark in den Extremen der Stimmung zu wechseln. Die
höchsten Spannungen können fast kaum anders, als nah sich be«
rühren, darin liegt oft sogar die Rettung des Lebens. Im Grunde
hat auch die wahre Kunst keine andern Vorwürfe, als diese höchsten
Stimmungen in ihrem äußersten Verhalten zueinander zu zeigen. Für
die Kunst entsteht aber aus der materiellen Verwendung dieser Ex»
tremitäten leicht eine verderbliche Manier, die bis zum Haschen nach
äußerlichen Effekten sich verderben kann. Hierin sah ich namentlich
die neuere französische Schule mit Victor Hugo an der Spitze be-
fangen. . . Meine feinste und tiefste Kunst möchte ich jetzt die Kunst
des Abergangs nennen, denn mein ganzes Kunstgewebe besteht aus
solchen Abergängen. Das Schrofse und Iähe ist mir zuwider ge«
worden; es ist oft unumgänglich nötig, aber auch dann darf es
nicht eintreten, ohne daß die Stimmung auf den plötzlichen Äber«
gang fo beftimmt vorbereitet war, daß sie diesen von felbst forderte.
Mein größtes Meisterstück in der Kunst des feinsten, allmählichsten
Aberganges ist gewiß die große Szene des zweiten Aktes von Tristan
und Isolde. Der Anfang dieser Szene bietet das überströmendste
Leben in seinen allerheftigsten Affekten, der Schluß das weihevollfte,
innigste Todesverlangen. Das sind die Pfeiler: nun fehen Sie ein-
mal, wie ich diese Pfeiler verbunden habe, wie fich das von einem
zum andern hinüberleitet."

Sehen wir so eine im Grunde zu raschem Wechsel entgegen-
gefetzter Stimmungen neigende, große Persönlichkeit dem modernen
Zuge zur Vermittlung der ihr innewohnenden Gegensätze solgen, so
verstehen wir, um vom Großen aufs Kleine zu kommen, wieso jenes
Mühlheimer Programm die einen befriedigen, die andern verletzen
konnte. Das Volk kennt ein Bedürfnis nach zarteren und weitaus«
holenden Begründungen seelifcher Eindrücke nicht. Wie es in feiner
intuitiv zusammenfafsenden Art nur die Hauptmomente ablaufender
Empfindungsreihen beleuchtet und festhält, so lebt es auch: naiv
und reflexionslos. Wogegen das moderne Individuum in sich eine
so fein differenzierte Reizsamkeit entwickelt hat, daß ihm gerade die

^ 65H Kunstwart XX, 2^
 
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