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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 24 (2. Septemberheft 1907)
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Kalkschmidt, Eugen: Erinnerungen
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Batka, Richard: Vom Wechsel der Stimmung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0774

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Analyse des Gefühlswandels erst den vollen künstlerischen Genuß
gewährt. Ia, nicht bloß innerhalb eines und desselben Kunstwerks
fordern wir hente die allmähliche Vermittlung der Extreme, sondern
wir dehnen unsre Ansprüche auf das ganze Gebiet der ästhetischen
Rezeption ans. Beweis: die Bewegung zur Reform der Konzert-
programme, die letzten Endes darauf abzielt, unsrer gesteigerten
Empfindlichkeit gegen willkürliche Äbergänge Rechnung zu tragen.
Frühere Zeiten haben das keineswegs gekannt, haben sogar in der
möglichsten Buntheit und Abwechslung der Programme einen be-
sondern Vorzug gesehen. Wogegen jetzt die Komposition einer Vor-
tragsordnung, das Abstimmen der einzelnen Vortragsstücke unter-
einander eine Kunst für sich bildet. Ls ist bezeichnend dabei, daß
sich das große Publikum gar nichts aus diesen Reformprogrammen
macht und daß die Kritik, die nach Lhnen ruft, da eigentlich nur den
geläuterten Geschmack der kunstgebildeten Minderheit zum Gesetz erhebt.

Freilich kann auch hierin des Guten zu viel geschehen, und dann
antwortet die gesunde Natur der Menschheit mit einem herzhaften
Rückschlag. Seien wir froh über den Besitz dieses verläßlichen Kor-
rektivs. Der naive Sinn vieler sträubt sich gegen die Zumutung
und wird sich wohl immer dagegen sträuben, daß, wenn man zwei
Stunden lang alle Gefühle der Trauer im Busen erweckt hat, man
nun auch über die Zeit des Konzertes hinaus den stilvollen schwarzen
Flor trage. Er wird vielleicht eines Tages auch gegen das anstrengende
und ermüdende Verfolgen der kleinsten Gefühlsschritte sich auflehnen,
die Sehnsucht nach der Synthese wird gebieterisch anschwellen, und
wir werden es als besondern Reiz empfinden, nach den Worten des
Vedaliedes vom offenen Grabe zu Tanz und Scherz zu gehen. Sollten
die Mühlheimer also am Ende gar statt rückständiger Leute die
Pioniere der Zukunft sein? Ich weiß es nicht. Den kommenden Rück-
schlag gegen den herrschenden analytischen Geist der Moderne fürchte
ich auch nicht. Die Errungenschasten der neuen Zeit, die Lust an der
psychologischen Vertiefung und Lntwicklung wird nicht mehr ganz
verloren gehen können, und nur gewisse Äbertreibungen und Äber-
schätzungen dieser Methode wird man beiseite tun, die Seelenriecherei,
das Protzen mit der Psychologik.

Noch ein Umstand, der zugunsten unsrer Klienten spricht. Der
Abend fand zum Andenken eines Künstlers statt, der sür uns und
unsre Vorväter nur noch ein Phantasiebesitz war, der nur in seinem
Geistigen noch fortlebt, den keiner mehr als Menschen leibhaft ge-
kannt hat, der mit seinem irdischen Teil auf keinen Fall mehr unter
uns wandeln und wirken könnte. So konnte auch die Klage über
seinen Hingang nur mehr einen ideellen Eharakter haben, konnte
die Feier nicht der unmittelbare Ausdruck eines persönlich, auch über
das Konzert hinaus empfundenen Leides sein, war sie vielmehr eine
willkürlich wachgerufene Vorstellung, deren Zeitdauer wir selbst durch
unsern Willen beschränken können, die entschwindet, indem wir sie
singend gewissermaßen entladen. Denken wir uns einen Augenblick
das Gegenteil von dem, was die Sänger taten, denken wir uns, sie
wären nach dem Konzert mit Leichenbittermienen beisammen gesessen.
Ihr Kommersieren nach dem Trauerakt können wir vom Standpunkte

2. Septemberheft VO? 655
 
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