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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI issue:
Heft 12 (Septemberheft 1925)
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Illing, Werner: Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0321

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triumphieren, sagt Luo tse. So besiegt das Meer den Starrsinn des Landes.

Dem Meer unter den Erdformen entspricht in den Künsten die Musik.

HsVler seine Seele in Musik taucht, der gibt auf, was seine Sorgen und
n^Mühungen von den Sorgen anderer abgrenzt, der entrückt sich jedem
festen Plan und Vorsatz, der treibt auf dem unendlichen Meer der Empfin-
dung in Sturm oder Stille willenlos, befreit von der Achtsamkeit des
eigenen Schritts. Angebrochen leitet der himmlische Horizont seine Fahrt
in die Unendlichkeit. Der Rhythmus, der scheinbar Zeit zur sichtbaren
Erscheinung stampst, er tilgt das Zeitliche aus dem Bewußtsein. Nur die
Melodie bewahrt irdisches Maß, schützt Grenzen, führt zurück zum schmerz-
lichen Genuß der Vergänglichkeit. Doch schon beeilt sich eine Gegenmelodie,
punctum contra punctum, diese allzubestimmte Aussage zu neutralisieren.
Mehrere Melodien verschlingen sich heben sich auf, reinigen sich zur
„absoluten« Musik.

Der Mensch, der noch sehr naturverbunden lebt, der noch nicht tragisch
in Ich und Welt zerfallen ist, ergreift das Urelement der Musik, den
Rhythmus. Der Tanz, und seine kriegerische Abart, der Marsch, wollen
durch leidenschaftlicheren den trägen Rhythmus des Blutes anfeuern. Im
Rhythmus triumphiert Eros. Und Eros ist das Lwige, Zeitlose, von Ge-
burt und Tod Anabhängige, das unvergänglich rauschende Meer zwischen
den verwitternden Strandburgen der Götter.

Im Tanz wird Musik körperhaft wahrnehmbar. Im Tanz beliebt es
ihr, die ruhende Plastik der Körper ins flüchtige Element der schwankenden
Flamme umzuformen. Im Tanz entfremdet Musik den durchbluteten Kör-
per von der unbelebten Erdmasse.

Die Tanzmusik ist ohne Anfang und Ende, denn für den Rhythmus ist
keine Begrenzung denkbar. Tanzmusik schwingt bereits in den tzerzen und
Füßeu einer erregten, gleichgestimmten Menge. Sie ist da, aber keiner
hört sie noch mit Ohren, nur das Blut nimmt ihren Takt auf. Plötzlich
aber brandet sie in die Sinne, sie springt auf die Trommeln, sie klatscht
in tzände, sie stampft die Erde, sie öffnet zum Schrei im Takte die Münder.
Und wenn die Glieder erlahmen und die tönenden Ekstasen verstummen,
über den Schlafenden rauschen die Gewänder der Nacht im gleichen Auf-
schwung und Fall.

Spätere Völker, die den Rhythmus durch die Form der Melodie ein-
dämmten, richteten diese unbewußt bei der Tanzmusik so ein, daß das
Ende der Phrase sich immer wieder ohne besondere Äberleitung an den
Anfang anschließen kann; damit der unendliche Zug des Tanzes nicht
unterbrochen werde. Die „praktische" Tanzmusik wird nicht von der Span-
nung des musikalischen Gedankens, sondern von der Ausdauer der tan-
zenden Körper beherrscht.

Die Sprache betastet die greifbaren Dinge. Sie schematisiert die Er-
scheinungen im Wort. Ausl dem Verhalten der Dinge zueinander keltert sis
den Begriff. Aus Begriffen deutet sie das Wesen der Erscheinungen.
Stets bleibt sie dem Anschaulichen verhaftet. Metaphysisches auszuspre-
chen gelingt ihr nur durch das Gleichnis im Physischen. Allgemeine Emp-
findungen umschreibt sie durch das spezielle Erlebnis. Im besten Fall
fängt sie Zeitliches im vielfachen Spiegel auf und reflektiert das Ewige
annäherungsweise.

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