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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1925)
DOI Artikel:
Illing, Werner: Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0322

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Wo das Ungenügen solcher Ausdrucksweise den Äberschwang der Seele
hemmt, entsteht die Melodie. Melodie ist dem Dinglichen abgewandt,
sie ist die Sprache der reinen Gefühlszustände.

Es wäre falsch, sie in Rangstufe über den Wortsatz zu befördern. Ihre
Vieldeutigkeit gegenüber der Eindeutigkeit des klaren Sinnsatzes ist von
Vorteil für den phantasiebeherrschten Ausleger, von Nachteil für den,be-
griffsgewohnten Denker.

Weil Melodie direkte Aussprache über Empfindungen ist, die durch
Worte nur gleichnisweise, aus Umwegen, verständlich gemacht werden kön-
nen, ist ihr Wesen bei den Versuchen philosophischer Lebensdeutung anzu-
siedeln, denn, wo das Verborgene, Wesenhafte durch das Mittel der Kunst
den Sinnen aufgeschlossen wird, lebt wahrhast Philosophie, Liebe zu Weis-
heit und Erkenntnis.

Melodie ähnelt der Wurfbahn des geschleuderten Steins. Sie bewegt
sich als Spannungslinie zwischen zwei Polen. Ihr Umsang ist formal
begrenzt. Das heißt, im Tiefsten ihrer Bildung Herrscht das Gesetz der
Symmetrie. Dieser irdisch-endliche Aufbau, schwankend zwischen Ruhe der
Vorgeburt, höchster Wirkenskraft, und Vollendung im Nicht-mehr-wirken,
Lieses Sinnbild des Lebens schlechthin, kündet am Reinsten der geäng-
steten Seele das Sinnvolle der Vergänglichkeit. Dieses Sinnvolle der
Vergänglichkeit, das kein Wort beschreiben kann, nur ganz gelöste Lyrik,
die der Musik verwandter ist, als dem Begrifflichen. Deshalb wird die
Melodie zum Trost der philosophisch tiefangelegten Völker. Die in Worten
und Gedanken ungelöste Tragödie zwischen Eintagsexistenz und Ewig-
keitserkenntnis wird in der Melodie zur natürlichen Verbindung ergän-
zender Kräfte.

Die Griechen waren vermutlich in der Melodie das musikbegab-
teste Volk unter allen. Darauf verweisen die komplizierten Tongeschlechter
mit wesentlich feineren Intervallstufungen, als sie unserer 12stufigen Skala
eigen sind. Der Hang, die Möglichkeiten die Intervallbildung zu ver-
mehren, deutet unzweifelhaft auf die Vorherrschaft des Melodischen vor
dem Rhythmischen. (Bei alledem darf nie übersehen werden, daß die
Lebendigkeit der Melodie vom Herzschlag des Rhythmus getrieben ist!)

Alle Völker, denen Anlage oder harte Lebensbedingungen Anlaß gaben,
zu Denken und zu grübeln, haben das melodische Volkslied entwickelt. Me-
lodie ist sinnfällig gewordene Sehnsucht. Die glücklicheren Völker des über-
strömenden Südens waren schöpferischer im Tanz, im Rhythmus, in der
Musik der unbedingten Bejahung, im Eros.

Melodie, nach allem Gesagten, ist die schwärmerische Schwester des brü-
tzerlichen, bestimmteren Sinnsatzes. Sie verbindet sich mit ihm zum Lied.
Dennoch niemals gedeiht diese Vereinigung zur vollkommenen Verschmel-
zung. Die großen Meister der Melodie, die frühen Italiener, Mozart,
Rossini, Verdi, nutzten in der Aria das Wort sast nur zur Vokalbildung.
Sie hoben den allgemeineren musikalischen Ausdruck über den engeren
Sinn der Worte. ,

Schon Schubert komponiert häufig für den Text, will die Plastik des
Wortes durch melodische Wendung heben. Bei Wagner wird diese musi-
kalische Ornamentik um den Körper des beschwerten Wortsinns zur vor-
sätzlichen Gewohnheit. Allerdings überwindet ihn die Melodie gelegent-
lich und fast wider Willen.
 
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