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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1925)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Selbstentlehnung - Autosuggestion
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0187

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vermag viel. „Wv ein Wille ist, ist auch ein Weg!" Doch ist es mit dein Willen
eine höchst zweiselhaste Angelegenheit. Darüber habe ich im Junihest deö Knnst-
warts einige „Bemerkungen" gemacht, deren Kernsatz lautete: Die Erfolge unseres
„Willens" hängen im Wesentlichen nicht ab von unserem Wollen, sondern von
verschwimmenden, mehr oder weniger hell oder dunkel im Jnneren gesehenen „Vor-
stellungen". Daß man vollends den Willen nicht noch „wollen" könne, darüber
standen irn Augusthest einige Worte von Paul Cohn, entnommen dem Buch über
unnötiges Altern. Da siel auch schon das Wort von der „Autosuggestion" . . .
Autosuggestion ist das Hauptwort des sranzösischen Arztes und Psychologen C o u e,
der mit staunenswerter Klarheit die Psychologie des Entschlusseö und der Selbst-
lenkung erkannt und dargelegt und daraus eine wahre Heilslehre gegründet
hat. Coue geht um den entscheidenden Schritt weiter, wenn er meinen Satz, unsere
Willensentscheide seien wesentlich abhängig von der Krast der zu ihnen verlockenden
Borstellungen, überbietet durch die schärfere und sicherere Formulierung: „Dieser
Wille, dem wir selsenfest vertrauen, unterliegt stets, wenn er mit der Ein-
bildungskraft* in Widerstreit gerät. Dies ist ein Gesetz im strengsten Sinne, das
keine AuSnahme kennt." Coue sährt nun beweissührend fort wie solgt.

„Die letzte Behauptung wird als ungeheuerliche Herabwürdigung der menschlichen
Natur erscheinen, als efsekthascherische Verdrehung der wirklichen Tatsachen: ich
aber sage Jhnen: es ist die Wahrheit, die reine Wahrheit! Wer sich davon über-
zeugen will, tue doch nur die Augen aus, schaue um sich rmd lerne verstehen, was
sich seinen Bli'cken darbietet. Dann wird er einsehen, daß jener Satz weder als
eine aus der Luft gegrissene Theorie noch als Ausgeburt eines kranken Hirnes
angcsehen werden kann, sondern als der schlichte Ausdruck dessen, was i st.
Nehmen wir einmal an, wir legen ein zehn Meter langeS, sünfundzwanzig Zenti-
meter breites Brett aus den Boden. Selbstverständlich wird jedermann von einem
Ende zum anderen gehen können, ohne daneben zu treten. Nun wollen wir aber
den gleichen Versuch uns unter anderen Bedingungen angestellt denken: dasselbe
Brett verbmde als Steg die zwei Türme eines Domes. Wer wird noch imstande
sein, aus solchem Stege auch nur einen Meter zurückzulegen? Jst unter meinen
heutigen Zuhörern eine einzige Person, die sich eine solche Leistung zutraut? Gewiß
nicht. Keine zwei Schritt könnten Sie tun, und schon würde Sie ein Zittern be-
fallen; trotz der stärksten Anspannung der Willenskrast würden Sie unfehlbar ab-
stürzen.

Wieso sällt man nicht, wenn das Brett aus der Erde aufliegt, und warum würde
man sallen, wenn es hoch oben angebracht wäre? Weil man sich im ersten Fall
cinfach einbildet, es sei keine große Kunst, bis ans Ende des Brettes zu gehen,
während man sich im zweiten Fall einbildet, man könne es nicht.

Dabei isk immer das eine im Auge zu behalten: Man will zwar unbedingt vor-
wärts gehen, aber die bloße Einbildung, man könne es nicht, erweist si'ch als un-
übersteigliches Hindernis.

Dachdccker und Zimmerleute bringen jenes Schreiten auf schmalen Planken nur
darum zuwege, weil sie sich eben einbilden, es zu können.

Das Schwindelgesühl ist lediglich aus die Borstellung zurückzuführen, daß wir
sallen werden; diese Vorstellung wird sosort in Handlung umgesetzt, so sehr sich
unser Wille dagegen stemmt, und diese Verwirklichnng des Vorgestellten tritt um
so schneller ein, je hestiger wir uns dagegen zur Wehr setzen.

Nehmen wir den Fall einer Person, die an Schlaslosigkeit leidet. Wenn sich der
Betressende nicht zum Schlase zwingen will, wird er ruhig im Bett liegen. Je

* Das ist die Kraft, „Vorstellungen" zu erzeugen. Sch.

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