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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,2.1929

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Heft 7 (Aprilheft 1929)
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Michel, Ernst: Goethes Naturanschauung im Blickfeld unsrer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.8886#0017

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stisch hmausgestellt — gegenüberzusiehen. Subjekt und Objekt sind gleichbe-
rechtigte Realitäten: auf ihrem wirklichen, schicksalhaften Aufeinan-
derwirken, Zusammenwirken, beruht Erkenntnis als Wahrheitsschau.

Goethe vermied mit eiserner Selbstzucht alle subjektiven Ausdeutungen der
N!atur. Er schreibt: „Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im Kleinen
hab ich unausgesetzt die Frage gesiellt: isi es der Gegensiand oder bisi d u cs,
der sich hier ausspricht." Abcr der Gegensiand spricht sich nur dem aus, der
es vermag „rnit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräf-
ten in die Natur und das heilige Leben derselben einzu-
dringe u".

IV.

2lus seiner Nakuranschauung als dem 2lnkergrund seiner Exisienz ergab sich
sür Goethe auch seine Kunsiauffassung. Die mit 2lugen des Geisies
geschaute Natur isi ihm Lehrmeisierm des Künsilers. Er fordert vom Künsilcr
bewußte Bindung an die objekkive Welt der llrphänomene. „Die hohen
Kunstwerke", schreibt er, „sind zugleich als die höchsien Naturwerke von
Menscheu nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht wor-
den. 2llles Willkürliche, Eingebildete sällt zusammen; da isi Notwendigkeit,
da isi GoLL." „Jndem der Mensch aus den Gipsel der Natur gestellt isi, so
sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel
hervorzubringen hak. Dazu sieigert er sich, indem er sich mit allen Bollkom-
menheiten und Tugeuden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Be-
deukung aufruft und sich endlich zur Produktion des Kunsiwer-
kes erhebt." „Kunsi isi schöpferifche, bewußt gewordene Produktivität der
Natur im Menschen." Vom Stil des Künsilers sagt er: „Der Stil in der
Kunsi ruht auf den Liefsicn Grundfesien dcr Erkenntnis, auf dem Wesen der
Dinge, insofern uns erlaubt isi, es in sichtbaren und greiflichen Gesialten zu
erkennen", also auf der realen Grundlage der Beziehung des Menfchen zum
Urphänomen.

Damit gibt Goethe der Kunst ihre höchsie Würde zurück: Mittlerin zu sein, die
die Urphänomene götklichen Wirkens, die sonst in dem welt-einigen Blick des
Schauenden befchlossen blieben, aller 2lugen unmittelbar gegenwärtig macht.
„Wem die Natur ihr osi'enbares Gehcimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet
eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsien 2luslegerin, der Kunsi."
So isi die Trennung der beiden Reiche: Kunst und Natur, die dem Geistes-
kypus Platons und Schillers eignet, in Goethe aufgehoben.

Jn cinem freilich trafen sich Goekhe und Schiller wieder: in der Grundüber-
zeugung, daß es in der Kunst um die Vermittlung der befreiendenWahrheit
an die Menschheit gehe, die nur durch die Kunsi würdig verkündet werden, nur
durch das Medium der menschlichen Bildekräfte zu einer glaubhaften und
darum wirksamen Darbietung gelangen könne.

Bei Goethe ruhte diese hohe, ja religiöse 2lusiassung der Kunsi auf den Grnnd-
fesien seiner NaturerkennLnis: diese war wahrlich ein 2lnkergrund, in dem
sein Leben Ruhe und Kraft fand. Wirklicher Halt und Krafk aber fließen nie
aus subjcktiven Gebilden, sondern nur aus einer überindividuellen und doch
zutiefsi persönlichen WirklichkeiL. Goethe begründet die Wahrheit nicht auf
ihren Lebenswerk, aber sie erweist sich ihm durch ihre schöpferische Kraft,

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